Wolfgang Tomášek

 

 

 

Gesundheit

oder gesundheitliche Selbstbestim­mung?

 

 

Bürgertext

 

2

 

Stand 1.9.2001 (1990)

 

 

 

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1. Gesund­heit und Grundge­setz

 

 

 

2. Zum Begriff der Gesund­heit

 

 

 

3. Zum Recht auf ge­sund­heitliche Selbstbe­stim­mung

 

Beispiel Gurt­pflicht

 

Beispiel Dro­gen

 

Beispiel Aids

 

Beispiel Psychiatrie

 

 

 

4. Schlußbe­merkung

 

 

 

 

 

Begriffe: Anklicken der im Haupttext mit ">" markierten Begriffe führt zur Erläuterung. Nochmaliges Anklicken des Begriffs bei der Erläuterung führt zurück zur Lesestelle.

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Gesund­heit und Grundge­setz

 

Gibt es ein Recht

auf Gesundheit?

 

 

 

 

 

 

Haben wir ein Recht auf >Gesundheit? Das Grundgesetz jedenfalls kennt kein solches Recht, jedoch in Artikel 2(2) das "Recht auf Leben und körperliche Unversehrt­heit". Das ist weniger, aber ein­deutiger. Es ist feststell­bar, wenn jemand einen anderen verletzt oder gar um­bringt. Wie schwie­rig allerdings schon die "körperliche Unver­sehrtheit" zu fassen ist, oder umgekehrt die "Kör­perverletzung" des Strafgesetzbu­ches, zeigt sich aus den Auseinandersetzungen um die Umweltver­schmutzung. Wenn es um schleichende Belastung der Gesundheit durch sich gegenseitig summieren­de oder gar potenzie­rende Um­welt­gifte aus verschiedenen Quellen geht - wer soll da wegen Körperver­letzung belangt werden? Noch schwieri­ger wäre es, objektiv festzustellen, wann jemand einem anderen allgemein das Recht auf Gesundheit streitig macht, sofern Gesundheit nicht als das gleiche betrachtet wird wie körperliche Unversehrtheit.

 

Oder enthält das Recht auf freie Per­­sönlich­keitsentfal­tung ein Recht auf Gesundheit? ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

... wenn ja, dann nicht aufkosten anderer.

 

Artikel 2(1) des Grundgesetzes garantiert: "Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sit­tengesetz ver­stößt". Dies ist sogar noch mehr als ein Recht auf Gesundheit, denn auch ein im gewöhnlichen Sinn gesun­der Mensch kann in seiner Persönlichkeits­entfaltung beschnitten sein. Wenn nun einer Gesund­heit als Teil oder Vorbedingung seiner Persönlichkeits­entfaltung be­trachtet - das wird oft der Fall sein  - dann kann man annehmen, daß sein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit das Recht auf Gesund­heit einschließt - innerhalb der Grenzen, die Artikel 2(1) des Grundge­setzes zieht. Das dürfte wohl nicht ohne weiteres in dem Sinn verstanden werden, daß ein Kranker sagen kann: "Ich habe das Recht auf freie Entfaltung meiner Persön­lichkeit, also auch auf Gesundheit; deshalb macht mich gefälligst auf Staatskosten gesund!" Es dürfte aber in dem Sinn verstan­den werden können, daß niemand einen anderen daran hindern darf, seine Gesundheit zu erhalten oder zu fördern, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten - es sei denn, er würde durch die Gesundheits­entfaltung seines Kontrahenten selbst in seinem Recht auf Persönlich­keitsentfaltung verletzt.

 

Fordert das "Sitten-

ge­setz" eine spezielle Gesund­heit?

 

Wenn aber jemand nicht Gesundheit als Teil oder Vor­bedingung seiner Persönlich­keitsentfaltung sieht, sondern vielleicht die Nichtbe­achtung von Gesund­heitsgesichts­punkten, oder Ungesundheit, oder eine speziel­le Krankheit oder gar Selbstmord - was dann? - Auch dann dürfte ihn nach dem Grundgesetz eigent­lich niemand an dieser Art von Persön­lichkeits­entfal­tung hindern können, denn was einer unter "freie Ent­faltung seiner Persönlich­keit" verste­hen kann, dar­über schweigt das Grundgesetz - wenn es anders wäre, dann wäre die Entfaltung der Persön­lichkeit nicht mehr frei. Allen­falls das ">Sittenge­setz", über dessen Inhalt das Grund­gesetz eben­falls schweigt, könnte ihm dazwischen­funken: Der Ge­setz­geber könnte Unge­sundheit oder Selbst­ver­stümme­lung oder Selbst­mord­versuch als "Verstoß gegen das Sit­ten­ge­setz" de­klarieren und Strafge­setze dage­gen einführen - im Extrem­fall könnte fast die ganze frei­heitli­che Substanz des Grundge­setzes durch das Sittenge­setz wie durch ei­nen unverschlos­senen Gully abge­saugt werden, bis am Schluß nur mehr der Gully, das Sit­tenge­setz übrig ist, das dann nahezu belie­big gedeutet werden kann. Die Folgen wären auf vielen Gebieten erheb­lich; zur Zeit dürften der Gesetz­ge­ber und die Ge­richte vor so etwas zurück­schre­ken. Heute sind immer­hin weder Ketten­rau­chen noch star­ker Alkohol­ver­brauch noch der Selbst­mordver­such strafbar, obwohl sie im gängigen Sinn ungesund sind und es bestimmt eine ganze Menge Leute gibt, die so etwas als Verstoß gegen die guten Sitten empfin­den. Gesetz­geber und Recht­sprechung stecken also die Grenzen der Freiheit auch heute weiter als das, was gängiger­weise als "normal" oder "gesund" gilt - eine Chance für Außenseiter und Pioniere in der De­mokratie.

 

 

 

2. Zum Begriff der Ge­sund­heit

 

 

"Gesundheit" von der WHO umweltbezogen definiert

 

 

 

 

 

Was soll aber "Ge­sund­heit" über­haupt sein? Hier­über besteht keine Einigung, auch nicht unter Ärzten. Die Welt­gesund­heitsorganisation der Vereinten Nationen (WHO) definiert Ge­sund­heit als "Zustand körperli­chen, gei­stigen und sozialen Wohlbefin­dens". Mit einer sol­chen Defi­nition wird der Be­griff der Gesundheit auf den Begriff des Wohl­befin­dens zu­rück­geführt, also an das unmittelbare Erleben des einzel­nen gebunden. Gleichzeitig wird in der Definition der Bezug zur >Um­welt hergestellt, nämlich zumindest zur so­zialen Um­welt. Wenn die soziale Umwelt ver­schiedener Leute ver­schieden ist, müßte auch das soziale Wohl­befin­den dieser Leute auf verschie­denen Be­dingun­gen beru­hen; die Gesund­heiten verschie­de­ner Leute in ver­schiedenen sozialen Umwelten müßten ver­schieden aus­schauen. Jeder weiß oder fühlt, daß einer, der zum Bei­spiel täglich im Wald arbeitet, eine andere Art von Gesundheit hat als zum Beispiel einer, der täglich im Ope­rations­saal arbei­tet. Keine der bei­den Arten von Ge­sundheit muß schlechter sein als die andere - sie sind nur verschie­den, weil die Um­welten, auf die sich die Ge­sundheit ein­stel­len muß, ver­schieden sind.

 

Ein Beispiel aus der Natur zeigt: In ver­schiedenen Um­welten ist verschie­denes ge­sund.

 

Wie durchgreifend die Gesundheit von der Umwelt ab­hängt, das läßt sich an einem Bei­spiel aus der Natur er­läutern: Ein Schmetterlings­weibchen legt viele Eier; nicht alle Nachkommen haben nach dem Schlüpfen aus der Puppe voll entfaltete Flügel; man­che haben einen Erb­schaden; sie haben nur Stum­melflügel. Diese von Anfang an behin­derten Schmetter­linge haben dann weniger Chan­cen als die flugfä­higen Exemp­lare, mit Partnern zusam­menzukommen und sich fortzupflanzen. Das heißt, die Stummelflügler un­ter den Nachkom­men des Schmet­ter­lingsweib­chens werden sich nicht durch­setzen kön­nen; sie werden mit ihren Nachkommen nie einen größeren Prozent­satz der Schmetterlings­bevölke­rung stellen kön­nen. Die Stum­melflüglig­keit hat also einen eindeu­tigen Krank­heits­wert.

 

Nun aber lassen wir einen Sturm das Schmetterlings­weibchen kurz vor der Eiablage packen, weit übers Meer tragen und zufällig auf einer kleinen Insel ab­setzen, die nur mit Gras und Kräutern be­wach­sen ist - etwa so ähnlich wie Helgo­land. Das Schmet­terlings­weib­chen findet Gelegenheit, seine Eier abzule­gen; die Raupen finden ge­eigne­tes Fut­ter, verpup­pen sich und schlüpfen. Und wieder schlüp­fen ein paar, die statt Flü­gel nur Stummel besit­zen. Was passiert? - Die mit den präch­tigen Flügeln erheben sich in die Luft und be­lächeln ihre Ge­schwi­ster mit ihren Stummelflü­geln. Nicht lang, denn der nächste Sturm erfaßt sie und bläst sie aufs Meer hin­aus. Ver­geblich versu­chen sie zu­rück­zuflat­tern; schließ­lich sinken sie ermattet ins Wasser; der nächste Fisch schnappt sich den bunten Happen. Ihre Geschwi­ster aber mit den Stum­melflü­geln krab­beln zwischen dem Gras und den Kräutern um­her - da kann der Sturm sie nicht packen. Sie sprü­hen ihre Lock­stoffe aus, finden - ohne die Kon­kur­renz der ge­flügelten Art­ge­nossen - ihre Part­ner, pflanzen sich fort und ver­erben ihre Stum­mel­flügel weiter. Und wenn hin und wieder ein­mal unter den Nach­kommen der Stummel­flügler ei­ner die alte Flü­gel­pracht ent­faltet, dann hat er nicht viel Chancen auf Überleben und Fort­pflanzung, be­vor ihn ein Sturm in den nassen Tod bläst. Was ist nun ge­sünder: der voll­ent­wickel­te Flü­gel oder der Flü­gel­stum­mel?  - Man kann es so allge­mein nicht sagen. Auf dem Fest­land ist der vollent­wickel­te Flügel ge­sün­der; er fördert dort die Chan­cen zumindest für die Fortpflan­zung. Auf der windigen Insel ist der Flü­gelstum­mel ge­sün­der; er fördert dort das Über­leben und da­mit auch die Fort­pflan­zung.

 

Das müßte in einer komplexen menschlichen Gesellschaft erst recht gelten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Arbeitsteilung selbst bei der Gesundheit

Was heißt das alles? - Ge­sundheit ist auf die Umwelt be­zogen. Et­was, das in der einen Um­welt gesund ist, kann in der anderen ver­derblich sein - ob in der Natur oder bei den Men­schen. In der menschlichen Gesell­schaft ist jeder Be­standteil der sozialen Um­welt des an­deren; wenn zwei sich zu­sam­mentun, dann kön­nen sie sich oft ergänzen, weil der eine Stär­ken und Män­gel an anderen Stellen hat als der an­dere; sie können ihre Mängel gegen­seitig ausgleichen und gemein­sam ihre Stär­ken nutzen. Unterschiede zwi­schen Men­schen und ihre Ergänzung sind die Grund­lage für Partner­schaf­ten, für Ehen, Familien, Gruppen jeder Art, die Ge­sellschaft überhaupt. Wenn alle in allem gleich gut wären, gäbe es keine Berufe, nicht einmal Ge­schlech­ter; es wäre kein Anlaß, sich zusam­menzu­tun und zu­sam­menzuar­bei­ten; die Menschen wä­ren eine ge­staltlose Mas­se wie ein Hau­fen Hefe­zellen.

 

Es gibt also so vie­le ver­schiedene Gesund­heiten wie es ver­schiedene Umwelten gibt. Ge­nau be­trachtet hat jeder seine eigene Ge­sundheit; kei­ne Ge­sundheit ist völ­lig mit der anderen vergleich­bar, denn jeder hat eine an­dere Umwelt als der andere.

 

 

 

3. Zum Recht auf ge­sund­heitliche Selbstbe­stim­mung

 

 

Kann der Staat eine Einheits­ge­sundheit durchsetzen? - Nur unter Opfern, die kaum einer in Kauf nehmen will.

 

 

 

 

Was wäre nun, wenn der Staat eine ein­zige Ge­sundheit aus der Viel­falt aus­wählen wür­de, ihr sozu­sagen ein staatliches Güte­siegel auf­kleben würde und sie zur Vorschrift ma­chen würde - alle an­de­ren Ge­sund­heiten aber für minder­wertig oder gar kriminell er­klären wür­de? - Eine sol­che Erfah­rung ha­ben wir; sie ist nur wenige Jahrzehnte alt: der Nazi­staat. Da­mals wurde die "Pflicht zur Gesund­heit" propa­giert; viele, die dem staatli­chen Gesundheits­ideal nicht ent­sprachen, sind in die Gaskam­mern und Verbren­nungs­öfen ge­wan­dert. Solche Ver­hält­nisse wer­den sich heu­te nur we­nige zu­rückwün­schen.

 

Allerdings: Vorstellung

einer Einheitsgesundheit

noch verbrei­tet

 

ABER: Es gibt heute noch eine Schlag­seite in unse­rer Gesell­schaft, die solche Gefah­ren birgt, und diese Schlag­seite kommt daher, daß eben doch viele mei­nen, es gäbe so etwas wie eine einheit­liche Gesund­heit für jeder­mann, so etwas wie die "richtige" Ge­sundheit für einen "nor­ma­len Bürger". Kaum einer wird meinen, daß es so et­was wie einen Idealberuf für alle gäbe. Aber die Vor­stellung, daß es "die" Ge­sundheit gibt, die geistert noch in den Köpfen rum, auch und ge­rade in den Köpfen von Ärzten und Psychiatern. Man merkt es daran, was sie zum Bei­spiel als ">Störung" bezeichnen und zu behan­deln versu­chen. Da gibt es "Verhal­tens­störun­gen", "Per­sön­lich­keitsstö­run­gen", "Entwick­lungsstörun­gen", "se­xuel­le Störungen", "Störungen des Realitäts­bezugs", "so­zial störende Gruppen" - alles, als ob es die "richti­ge" oder "stö­rungs­freie" Entwick­lung, die "ge­sunde Persön­lich­keit", den richtigen Rea­litätsbe­zug, das richtige oder gesunde Verhalten, die richtige oder gesunde Se­xualität für alle gäbe, an denen man die Störungen messen könn­te, die man da diagnostiziert. Wie fragwür­dig das aber ist, haben wir schon in un­serem Stum­melflüg­ler-Beispiel gese­hen. Um wie viel fragwür­diger muß das in der menschlichen Gesellschaft mit ihren Abertausen­den von ver­schiedenen Spezialumwel­ten sein! Kann nicht das, was mit der Lupe betrachtet eine "Störung" ist, aus der Entfer­nung gesehen eine robuste Ge­sundheit sein? Sind nicht außergewöhn­liche Mängel oft der Preis für eine au­ßergewöhnli­che Leistung auf einem Spezial­gebiet? Können sich nicht zwei oder mehr "Defektper­sönlichkeiten" zu einer Part­nerschaft vereinigen, die in einer neuen Umwelt durchschla­gend vital ist? Ist nicht zum Beispiel der Narr ein un­entbehrliches Spurenelement am Königs­hof? Kann nicht zum Beispiel ein "Hysteri­ker" ein unent­behrliches "Frühwarnsy­stem" in einer größe­ren Gruppe sein? - Ja freilich; viele haben ähnli­che Erfahrun­gen, und den­noch werden viele Leute bei uns einge­sperrt, weil sie ein seltsa­mes oder neu­arti­ges Ver­halten zei­gen - auch, wenn es nicht schädlich, sondern höch­stens lästig ist. Ich meine, das entspricht nicht ganz unserer Demo­kratie. Am Grundgesetz dürfte es ei­gentlich nicht liegen; man kann sich schlecht dar­auf berufen, wenn man eine Einheitsge­sundheit durch­setzen und eine The­rapie erzwin­gen will für die, die davon abwei­chen. Allenfalls den Blanko­scheck "Sittengesetz" könnte man hervor­ziehen - das ist aber in der rechtlichen Diskussion um Gesundheit zur Zeit nicht üblich. Den­noch scheint bei der For­mulie­rung von Grundrechten eine Schwäche zu bestehen, die erlaubt, daß sich hier und dort in unserer Ge­sellschaft Zwänge zu einer Ein­heits­ge­sund­heit einnisten.

 

Entscheidungen

erfor­dern Freiheiten

 

Wenn es eine Palette ver­schiedener Gesund­heiten in verschiede­nen Umwelten gibt, dann gibt es auch Ent­schei­dungen für diese oder jene Gesund­heit, ähnlich wie die Ent­scheidungen für diesen oder jenen Beruf. Wenn es aber diese Entscheidun­gen gibt, dann gibt es auch die Freiheit zu diesen Ent­scheidungen, die Selbstbe­stim­mung die­ser Ent­schei­dungen. Ohne Belang dürfte es sein, ob wirklich eine Art Willens­frei­heit hinter den Ent­schei­dungen steht oder sie durch irgend­welche psychi­schen Faktoren be­stimmt sind; solche Fragen kann das Grundgesetz dahinge­stellt sein lassen, wenn es Frei­heits­rechte auf­zählt. Es gibt auch Freiheiten und Selbst­be­stim­mungsrech­te, die nicht wörtlich im Grund­gesetz erschei­nen, aber in ande­ren Gesetzen oder in Ent­schei­dungen des Bundes­verfassungs­ge­richts ver­ankert sind, etwa das Recht auf in­formatio­nelle Selbstbe­stim­mung oder das Recht auf se­xuelle Selbst­bestimmung.

 

Recht auf gesundheitli­che Selbstbestimmung?

 

Wenn es nun eine Viel­falt von Gesund­heiten in ver­schie­denen Um­welten gibt und die Wahl zwi­schen die­sen Gesund­heiten selbst­be­stimmt ge­troffen werden kann, wenn man gleich­zeitig den Begriff der Gesund­heit gar nicht ob­jektiv ein­heitlich für alle festlegen kann, ohne Freiheiten zu be­schneiden - warum soll man dann nicht vom Recht auf >ge­sund­heitli­che Selbstbestimmung spre­chen?

 

Hieraus ergäben sich einige Konsequenzen ...

 

Wie die Rechte auf informa­tionel­le und se­xuel­le Selbstbe­stim­mung wäre ein Recht auf gesund­heitli­che Selbst­be­stim­mung Teil des Grund­rechts auf freie Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit. Ein Recht auf gesundheit­liche Selbst­be­stimmung würde ein Recht auf Ge­sund­heit um­fassen - al­ler­­dings nicht auf eine ob­jektive Ein­heits­ge­sund­heit, son­dern auf das, was je­der ein­zelne selbst von seinem Wohl­befinden her unter "Ge­sund­heit" versteht. Wenn die Rechtspre­chung es so handhaben würde, dann wäre es nicht unbe­dingt nö­tig, es im Grundge­setz ausdrück­lich zu nennen; es wäre eine Deutung des Begriffs der freien Entfaltung der Persönlich­keit. Den­noch wäre eine Ver­an­ke­rung im Grundge­setz zur Ver­deutlichung wün­schens­wert. Selbst dann würde es noch nicht zwangs­läufig respek­tiert: Auch die Gleichheit aller Menschen vor dem Ge­setz steht im Grund­ge­setz, wird aber für Kinder nicht ernst­ge­nom­men, obwohl auch Kinder Men­schen sind.

 

... auf verschiedenen Ge­bieten.

 

Wenn man ein Recht auf ge­sundheitliche Selbstbe­stim­mung aber tat­säch­lich ernstneh­men würde, ob es nun aus­drücklich im Grundge­setz steht oder nicht, dann müßte sich aller­dings einiges än­dern, einiges sogar sensa­tio­nell. Ich möchte hier ein paar Bei­spiele aus­füh­ren, wo man sich wohl neu besinnen müßte: Gurt­pflicht, >Dro­gen, >Aids, >Psych­iatrie.

 

 

 

 

Beispiel Gurt­pflicht

 

 

Gurtpflicht fragwürdig, aber ...

 

 

 

Gurtpflicht geht jeden Autofahrer etwas an. Die mei­sten waren da­für: Es ist ja vernünftig, einen Gurt anzulegen, wenn man das Risiko tödli­cher Verlet­zun­gen bei Unfällen ver­ringern möch­te. Und wer den Gurt ver­nünftig findet, der müßte doch auch für die Gurt­pflicht sein - oder? ... Oder etwa nicht? - Nein. Es ist ein Trugschluß. Ich kann dur­chaus regel­mäßig den Gurt anlegen und sogar jedermann empfehlen, ihn anzule­gen, und dennoch dafür sein, daß der ande­re selbst be­stimmen kann, ob er den Gurt anlegt oder nicht - und eben nicht durch eine staatli­che Vor­schrift mit Buß­geld- und letzt­endlich Ge­fäng­nisdro­hung dazu ge­zwungen wer­den soll. Denn es ist seine eige­ne Gesundheit, die er erhöh­ten Risiken aus­setzt, wenn er den Gurt weg­läßt. Wenn er das Recht hat, sich umzu­brin­gen, also seine Gesund­heit zu hun­dert Pro­zent zu zerstören, dann müßte er erst recht das Recht haben, seine Gesund­heit nur teil­weise zu ge­fähr­den. Er schädigt, ge­fährdet, be­hindert oder belästigt nie­mand anderen, wenn er den Gurt nicht an­legt.

 

Gurtfreiheit nicht aufko­sten ande­rer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Oder doch? - Die Kran­ken­kasse oder Versi­cherung, die das Zurecht­flicken und Ge­sund­pflegen zahlen muß, nachdem er aus dem Schrottauto gezo­gen wur­de? - Das ist nun wirklich ein wunder Punkt. Wenn die Kran­ken­kas­sen oder Ver­si­cherun­gen nicht das Recht haben, die durch­schnittlich höheren Ko­sten bei Un­fällen ohne Gurt abzu­wäl­zen, dann wäre das in der Tat unge­recht: Die Kasse - die Gemein­schaft aller anderen Versicherten - müßte für den Luxus der ge­sund­heitli­chen Selbst­bestim­mung des Gurt­muffels be­zahlen, ohne sich wehren zu können. Wenn die Kran­ken­kas­sen oder Versi­cherun­gen aber das Recht ha­ben, von vorneher­ein mit ihren Versi­cherten zu verein­ba­ren: Wer ohne Gurt fährt, kriegt nach dem Unfall so viel weniger, als der Gurt im Durch­schnitt an Ko­sten nach dem Unfall verringert - dann wür­de durch das Nichtan­legen des Gurtes nie­mand an­derer ge­schä­digt. Man könnte dann so etwas wie eine Gurt­pflicht vor dem Recht auf gesundheitli­che Selbstbe­stim­mung nicht mehr vertreten.

 

 

 

Beispiel Dro­gen

 

 

Gesundheitliche Selbst­bestimmung heute schon verwirklicht bei Alkohol, Nikotin, Tablet­ten, ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

... nicht aber bei ande­ren Drogen.

Nehmen wir an, wir hätten die gesund­heitli­che Selbstbe­stim­mung im Grundge­setz oder in der Recht­spre­chung veran­kert. Dann dürfte jeder rauchen und trinken, so viel er will, ohne daß er oder die Ziga­retten­händler und Schnaps­bren­ner dafür bestraft wür­den. - Hopp­la. Ach so, das darf einer schon heute, auch wenn man sich mit Rauchen und Trinken die Gesundheit im gewöhnlichen Sinn ruinieren und das Leben verkürzen kann. Haben wir also ein Recht auf ge­sundheitli­che Selbst­be­stim­mung schon jetzt verwirk­licht? - Nicht ganz. Denn: Warum darf einer Zigaret­ten oder Schnaps in Massen her­stellen, ohne dafür ins Ge­fängnis zu kommen - und warum kommt auf der ande­ren Seite ei­ner, der Hero­in, Kokain, Haschisch oder ähnliches herstellt oder ver­treibt, baldmöglichst hinter Gitter? - Da wäre doch im Grundsatz die gleiche Situa­tion? Oder besteht ein Unter­schied zwi­schen Nikotin und Alkohol einerseits und den "harten" Drogen ande­rer­seits? - Das wird oft behauptet. Wenn ich mir aber ein paar Bilder aus meiner Erin­nerung her­vorhole, dann glaube ich nicht, daß Alkohol für den Alkoholi­ker (natür­lich nicht für an­dere) eine weiche Droge ist. Alkohol ist für be­stimmte Leute ein hartes Rauschgift; es kann sie auf die Straße und unter den Rasen bringen. Das heißt: Nach allem Anschein ist da eine In­konse­quenz in unserer ge­gen­wärtigen Rechts­praxis: Alkohol und Nikotin ge­sell­schaftlich anerkannt, Heroin, Ha­schisch und andere Drogen krimi­nalisiert.

 

Rechts­praxis

ist widersprüchlich

 

Wie würde es aber aus­schauen, wenn gesundheitli­che Selbstbe­stim­mung als Recht ver­wirklicht wäre in unse­rer Gesell­schaft? - Dann könnte man auch die jetzt verbote­nen Drogen, vielleicht in den "Drogerien", frei kaufen. Preis und Ge­winnspanne würden fallen, denn der Han­del hätte kein Risiko mehr; fast jeder könnte sich das Zeug lei­sten, wie jetzt Bonbons, Zi­garetten, Bier. Es müßte kei­ne wesent­liche Drogen­kriminali­tät mehr geben; Anreize zu Verbrechen würden weg­fallen. Drogen zu nehmen müßte auch nicht mehr zwangs­läufig berufs- und exi­stenzzer­störend wir­ken. Das Gan­ze wäre viel­leicht nicht viel dramati­scher als der heute übliche Umgang mit Beruhi­gungs­tabletten. Und wie auch heu­te viele von so etwas weg­kommen, so würden viele im Lauf der Zeit auch von den anderen Drogen weg­kommen; Techniken des Entzugs wür­den auf brei­terer Front entwickelt.

 

Spezialgesund­heit

mit Drogen?

 

Von denen, die nicht davon wegkom­men, würden sich viele ein Gleich­gewicht eines gleich­mäßigen Dro­gen­kon­sums zule­gen, wie heute viele mit Tabletten. Sie würden sich wahr­scheinlich im Durch­schnitt eher ins Grab brin­gen als andere. Kür­zeres Leben mit vielen Räuschen wäre dann ihre Spezial­ge­sundheit.

 

ABER: Wer soll das bezahlen? - "Die machen sich doch ka­putt, invali­de! Und dann hal­ten sie als Frührentner die Hand auf oder legen sich ins Kran­kenhaus und lassen sich pflegen auf­kosten der Solidarge­meinschaft der Krankenver­sicherten! Und dagegen sollen wir uns nicht wehren dür­fen? Da sollen wir einfach zuschauen, wenn das Geld der anderen Versicherten - unser Geld - durch das Fenster "ge­sundheitli­che Selbstbe­stimmung" hinaus­gewor­fen wird?"

 

Nein. Das kann gewiß nicht der Sinn von gesund­heitli­cher Selbst­bestim­mung sein, daß die All­gemeinheit für das Drogen­hobby einer Minder­heit zahlt.

 

Gesundheitli­che Selbst­be­stimmung muß So­­li­dar­prin­zip modifizieren.

 

Das heißt: Wenn ein Recht auf ge­sundheitliche Selbst­bestim­mung ernst genommen würde, dann müßte sich auch im Ge­sundheitswe­sen etwas ändern. Wahr­scheinlich sind es wenige entscheidende Punkte, an denen kleine Türen zu neu­en Freiheiten geöffnet wer­den müßten. Vor allem: Die Kranken­kas­sen und Ver­sicherun­gen dürften nicht die Risiken von Drogen­ver­brauch aufgeladen be­kommen; die müßte der Drogen­konsu­ment selber tragen.  Das heißt: Das Solidarprin­zip müßte zumindest modifiziert wer­den. Dieses Prinzip geht im Grunde von der Vor­stel­lung aus, daß Krank­heiten Schicksals­schläge sind, die den ein­zelnen ohne we­sent­liche Mög­lich­keit der Gegen­wehr treffen und deren finan­zielle Bela­stungen die Soli­darge­meinschaft aller Mitglie­der gemein­sam trägt.

 

Krankheit nicht nur Schicksalsschlag

 

Das ist eine Vorstellung, die auch heute noch für viele Krankheiten, zum Beispiel für viele Un­fallfolgen zutreffen dürfte. Sie dürfte aber nicht ohne weiteres gel­ten für einen großen Be­reich von Krankhei­ten, denen man durch eine entspre­chende Le­bensweise wirksam vor­beugen kann, wenn man das will - und auch nicht für die Krankhei­ten, die durch Entschei­dun­gen der Be­troffenen selbst herbei­geführt wer­den, etwa die Folgen von Dro­gen-, Ni­kotin- oder Alkohol­ver­brauch. Ein Recht auf ge­sundheitliche Selbstbe­stim­mung beruht auf der Vor­stel­lung, daß zwischen dem einzelnen und seinen Krank­heiten auch - nicht nur, aber auch - Ent­scheidun­gen stehen, deren Fol­gen er als mündi­ger Bürger selbst tragen müßte.

 

Folgerung:

Vertragsfrei­heit für Krankenver­si­cherun­gen

 

Das bedeutet, das Ver­hält­nis zwischen den Kranken­kas­sen und den Versi­cherten müßte sich in Rich­tung auf ei­nen freien Vertrag be­we­gen; die Ver­siche­rungs­pflicht müßte modifi­ziert wer­den. In einem freien Ver­trag kön­nen Be­din­gun­gen vereinbart wer­den. Sol­che Bedin­gungen könn­ten auch so etwas wie die Be­zie­hung zu Drogen, Niko­tin, Alko­hol behan­deln. Selbst­bestim­mung bei der Gesund­heit heißt also Selbst­be­stim­mung beim Ver­trags­ab­schluß zwi­schen Versi­cher­tem und Kran­kenkasse. Ob der Aus­gleich für höhere Risi­ken über die Bei­träge, über Bei­tragsermä­ßigun­gen, über die Lei­stun­gen oder über meh­reres gleichzeitig geregelt wird, ob Zusatzver­si­cherun­gen für Spezialri­siken einge­führt werden, könnte dem Markt über­lassen blei­ben. Warum soll es nicht eine Viel­falt verschie­den­artiger Ver­träge für ver­schieden­artige An­sprüche von Leuten mit verschieden­artigen Ge­sundheits­ent­würfen ge­ben?

 

 

"Aber wir können doch nicht zu­schauen, wenn sich die Leute mas­sen­haft im Drogenver­brauch zu­grunderich­ten!"

 

Selbstbestimmung beim Leiden und Helfen

 

War­um nicht? - Die einen werden durchaus zu­schau­en kön­nen. Sie wer­den sagen: "Die­se Leute bestim­men selbst über ihre Gesund­heit. Sie zün­den ihre Le­bens­kerze an zwei En­den an. Wir re­spektieren das." Die an­deren werden es nicht mit­an­sehen kön­nen und in privaten In­itiativen alles tun, um an­de­ren zu hel­fen, nicht den Süchten zu verfal­len oder davon loszu­kommen. Alles unbe­nommen! Wo die be­tref­fenden Leute mit solchen In­itiativen zu­sammenar­bei­ten oder sich in ihre Obhut be­ge­ben, kann es, wie heute auch schon, et­was bewir­ken. Wo die Leute das nicht wollen, da hilft auch keine soziale Initiative. Im Grunde muß man heute schon hin­neh­men, daß eini­ge Leute eine an­ders­artige Ge­sundheit mit Drogen­konsum wäh­len.

 

 

 

Beispiel Aids

 

 

Selbstbestimmung

beim Risiko ...

 

 

 

 

Die Leute, die heute an Aids sterben, ha­ben sich an­ge­steckt zu ei­ner Zeit, als man nichts oder kaum etwas wußte von der Ge­fahr und man sich deshalb nicht gezielt schützen konnte. Heute ist es etwas anders. Heute kann man wissen, wo Risiken lie­gen. Das heißt ei­ner­seits, man kann wissen, daß es zu­min­dest ge­fähr­liche Körper­verlet­zung, wenn nicht Kör­per­verlet­zung mit To­desfol­ge ist, wenn man einen anderen mit dem >HIV-Vi­rus an­steckt. Ande­rerseits kann man wissen, daß man sich an­stecken kann. Wie soll man nun einen ungeschützten und un­ge­prüf­ten sexu­ellen Kontakt rechtlich deu­ten, wenn es zu einer An­steckung mit dem Virus kommt? Muß man ihn un­be­dingt als Kör­perverlet­zung mit To­desfolge ein­stufen? Oder kann man beim heutigen Stand an öf­fentli­cher Information über Aids ei­nen sol­chen Kon­takt nicht auch als still­schwei­gen­den Vertrag über die gemein­same Teil­nah­me an einem nicht näher bestimmten Aidsrisiko, also als Wahr­neh­mung des Rechts auf ge­sund­heitli­che Selbst­be­stim­mung be­trach­ten? Gibt es nicht ähn­liches auch in anderen Be­reichen, etwa den still­schwei­genden Beförde­rungs­vertrag, den man beim Be­treten einer Tram­bahn schließt?

 

... oder Körperverlet­zung mit Todesfolge? ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ist Vertragsabschluß entscheidend?

 

Es gibt also hier min­de­stens zwei einander wi­derspre­chende rechtli­che Deutungsmög­lich­keiten vor dem Hinter­grund gesund­heitli­cher Selbst­­bestim­mung. Die eine würde den Straf­verfol­gungsbehörden sehr viel Ar­beit machen, die andere keine. Nütz­lich wäre, wenn Gerichte oder auch der Gesetzgeber die Grenze zwi­schen bei­den Deu­tungen klar heraus­ar­beiten wür­den. Es sind aber auch Fälle denk­bar, wo die recht­liche Situation durch einen aus­drückli­chen Vertrag von vor­ne­herein ein­deutig ge­macht werden könnte. Besu­cher von Sex­clubs könn­­ten zum Bei­spiel vor dem Einlaß eine Erklärung unter­schrei­ben, daß sie von dem Risi­ko einer An­steckung mit dem HIV-Virus wissen, daß sie das Risiko auf sich neh­men und im Falle einer Ansteckung diese nicht als Körperver­let­zung durch andere be­trachten wür­den, son­dern als Folge ihres eigenen Ver­haltens. Dann könnte man vor dem Hin­ter­grund des Rechts auf gesundheitli­che Selbst­be­stimmung we­der gegen Be­sucher noch gegen Betrei­ber eines sol­chen Sexclubs vorgehen - selbst wenn dort un­ge­schützte Se­xual­kontakte gepflegt wer­den sollten. Man könnte auch nicht zum Beispiel gegen eine HIV-positive Prostitu­ierte vorgehen, die ihren HIV-Status vor einem Ver­trags­ab­schluß mit einem Freier be­kanntgibt, auf das Risi­ko hinweist und sich die Kenntnisnah­me be­scheini­gen läßt. Aber auch im Fall Aids könn­ten - wie in den Fällen Gurtpflicht und Drogen - die Kosten der gesund­heitlichen Selbst­bestim­mung billiger­weise nicht den Kranken­kas­sen und damit der Ge­meinschaft der Ver­si­cherten aufgeladen werden. Auch hier müßten sie das Recht bekommen, die Kosten ver­traglich zu begren­zen, etwa eine Zu­satz­ver­siche­rung gegen Aidsrisiken anzubie­ten. Gesund­heitli­che Selbst­be­stimmung im Fall Aids wäre dann auch Selbst­bestim­mung über die äußeren Be­dingungen des Siechens und Ster­bens.

 

 

 

Beispiel Psychiatrie

 

 

Verrücktheit als selbst­bestimmter Entwurf?

 

 

 

Daß die Ge­sellschaft das Recht hat, gemein­gefähr­liche Leute zu isolie­ren, un­abhängig da­von, wie ihr Verhal­ten zustande­kommt und ob es geändert werden kann, wird wohl auch ein Ver­fechter des Rechts auf gesund­heitli­che Selbstbe­stimmung kaum bestrei­ten. Frag­lich wird es aber, wenn es um das Bevor­munden und Einsperren von Leu­ten geht, die un­ver­ständli­ches, selt­sa­mes, neuarti­ges oder lä­stiges Verhal­ten zei­gen, ohne gemein­ge­fährlich zu sein. Sol­ches Verhalten könnte man in einem tieferen Sinn als selbstbestimmt betrachten, als speziel­len ge­sundheitli­chen Lebens­ent­wurf, als Ein­ladung zu speziel­len, seltenen, neu­artigen >Sym­biosen in Partner­schaf­ten oder grö­ßeren Grup­pen. Daß wir in vielen Fäl­len solche Ein­ladungen gar nicht ver­stehen können oder keinen Zugang zur Ver­wirk­lichung sol­cher Sym­bio­sen haben, dürf­te nicht hindern, die Einladun­gen als selbst­be­stimmt zu deuten und zu respektie­ren. Sogar Selbst­ver­stüm­me­lung und Selbst­mord könn­ten als gesund­heitli­che Ex­trem­­entwürfe ge­deutet und respektiert werden.

 

Frage nach Zwang entscheidend

 

Nichts gegen freiwillige Therapie. So­weit man das Ver­hältnis zwischen den psychiat­ri­schen Anstal­ten und ihren Patienten als einver­nehmli­chen Vertrag über irgend­welche Thera­pie deuten kann: Nichts dagegen ein­zuwenden! Entscheidend müßte aber die Frage nach dem Zwang werden.  Ein­sperren,  Briefzensur,  Zwangsthera­pie, Zwangs­medi­kation, Ru­hig­stellen von nicht gemein­ge­fähr­lichen Leu­ten, Fes­seln, Entmün­digen - all das wäre nicht verträg­lich mit einem Recht auf ge­sund­heitliche Selbst­be­stim­mung. Das wäre nicht mehr zulässig, weder in psych­­iat­rischen Anstalten, noch gemein­denah, noch in der Familie, noch sonst­wo. Also auch hier müßten an weni­gen ent­schei­den­den Punkten die Türen zu neu­en Frei­heiten geöffnet wer­den. Was sich dann daraus ergibt, dürfte in der Demo­kratie kein Gegen­stand staatli­cher Pla­nung sein. Nur wo sich neue Herde der Un­ter­­drüc­kung gesundheitli­cher Selbst­be­stimmung zeigen, dürfte der Staat ein­greifen.

 

 

 

4. Schlußbe­merkung

 

 

Recht auf gesundheitli­che Selbstbestimmung - ein Mehr an Freiheit.

 

 

 

 

Sicherlich gibt es noch eine Reihe anderer Bereiche, wo die Durch­setzung eines Rechts auf gesundheitli­che Selbstbe­stimmung im ein­zelnen zu Ände­rungen in der Rechts­praxis führen müßte, etwa im Bereich der staatli­chen Gesundheits­vorsorge. Ich glaube aber, schon die Bei­spiele Gurt­pflicht, Dro­gen, Aids und Psych­iatrie ver­deutli­chen, was aus einem Recht auf gesund­heitliche Selbst­bestim­mung folgen wür­de. Viel­leicht ringt man sich tat­sächlich ein­mal dazu durch, ein solches Recht als Teil des Rechts auf freie Ent­fal­tung der Per­sön­lichkeit zu betrachten - und ver­schließt gleichzeitig den offenen Gully "Sit­ten­gesetz", so daß nicht alle Bemühung um gesundheitli­che Selbst­be­stimmung durch die­sen Gully ins Ab­wasser der Rechtspre­chung ge­schwemmt wird.

 

Ich kann je­denfalls in einem Recht auf ge­sund­heitliche Selbstbe­stim­mung keinen Wider­spruch zum Grundge­setz erkennen. Hier und da wür­den Türen zu neuen Freiheiten geöffnet. Es wäre mehr vom Grund­wert unserer Demo­kra­tie.

 

 

 

Begriffe, wie sie hier verwendet werden:

 

 

 

Aids (meist AIDS geschrieben, für engl. "Ac­quired Immuno Defi­ciency Syn­drome") = Krank­heits­bild erworbe­ner Immun­schwäche

 

Drogen = (hier) Stoffe, deren Einnahme Erleben und Verhalten, meist in Richtung Schmerzfreiheit und Euphorie, verändert

 

Gesundheit = (nach der Weltgesundheits­organisation - WHO) "Zustand körperli­chen, gei­stigen und sozialen Wohlbefin­dens". Begriff im übrigen aber um­stritten.

 

Gesundheitliche Selbstbestimmung = Kon­zept für ein neues Grundrecht als Teil des Rechts auf freie Entfaltung der Per­sönlichkeit gemäß Art. 2(1) GG, formal der "informationellen" und "sexuellen Selbst­be­stimmung" nachgebildet

 

HIV-Virus = das >Aids verursachende Virus

 

Persönlichkeitsentfaltung, freie = Grund­recht gemäß Artikel 2(1) des Grundge­setzes

 

Psychiatrie = Seelenheilkunde. Als Wis­senschaft und medizinischer Fachbe­reich grundsätzlich umstritten.

 

Sittengesetz = unbestimmter Rechtsbegriff in Artikel 2(1) des Grundgesetzes. Grund­sätzlich umstritten.

 

Störung = hier, im medizinischen Bereich: (umstrittener) Begriff für eine unerwünsch­te Abweichung von Sollwerten

 

Symbiose = Zusammen­wirken zwischen zwei oder mehreren Lebewesen zu ge­gen­seitigem Vor­teil - meist als Austausch von Stoffen und Ener­gien dar­stellbar.

 

System = Gesamtheit von Elementen, die unterein­ander, bei offenen Sy­stemen auch mit ihrer >Umwelt in Beziehung stehen.

 

Umwelt = im allgemei­nen Sinn = Gesamt­heit aller >Systeme, die mit einem bestimm­ten Sy­stem in Beziehung ste­hen.