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Zwei Ethiken
in eins? |
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"Einvernehmlichkeit"
und "Ehrfurcht vor dem Leben" |
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Bürgertext |
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Stand 1.9.2001 (1995) |
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2.1. Verallgemeinerung:
"Wille" nicht unbedingt nur menschlicher Wille
2.2. Differenzierung: Wille eines
einzigen Menschen nicht unbedingt einheitlich
2.3. Differenzierung: Fraktal
verästelte Einvernehmlichkeit
4.
Beziehung zwischen den Konzepten
4.1. Ehrfurcht vor dem Leben schließt
Einvernehmlichkeit in sich ein
4.2. Konzept
"Einvernehmlichkeit" schließt "Ehrfurcht vor dem Leben" ein
5.
Folgerung: Äquivalenz beider Ethiken
Begriffe: Anklicken der im Haupttext
mit ">" markierten Begriffe führt zur Erläuterung. Nochmaliges
Anklicken des Begriffs bei der Erläuterung führt zurück zur Lesestelle. |
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"Einvernehmlichkeit", Kern rechtlicher
Ethik, ... |
Wenn ">Einvernehmlichkeit"
- das Zusammenlaufen zweier oder mehrerer >Willen -
unabhängig davon, ob einfach gedacht, oder in >fraktaler
Verfeinerung - als Grundlage für Verträge und damit als Kern bürgerlich-rechtlicher
>Ethik
gelten kann, dann kann man die Frage stellen, wie eine solche Ethik sich
verhält zu anderen ethischen Denkansätzen. |
... wie steht sie zu anderen Ethiken, insbesondere
der Ethik der "Ehrfurcht vor dem Leben"? |
Besonderes Gewicht in der
ethischen Diskussion dürfte nach wie vor Albert Schweitzers Ethik der >Ehrfurcht vor dem Leben" haben - auf diese
allgemeine Ethik berufen sich zumindest etliche abgeleitete, auch
rechtliche und politische Ethiken. Albert Schweitzer hat seine Ethik in den
frühen Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts veröffentlicht. - Wenn auch durch die Entwicklung von >Ökologie,
>Evolutionstheorie,
>Synergetik und jetzt auch die Evolution künstlichen
Lebens im Computer (vgl. Levi 1993) inzwischen die gedanklichen Grundlagen
vertieft und präzisiert wurden, - wenn auch die akademische Ethik-Diskussion, insbesondere
auf sprachanalytischem Gebiet, manche Präzisierung gebracht hat, - wenn auch vor dem Hintergrund der Ökologie der Ideen (">Meme"
als Einheiten kulturell-technischer Tradition analog zu den ">Genen"
als Einheiten der genetischen Tradition ...) eine tiefgreifende Relativierung
von Ethik überhaupt möglich ist, so ist der Schweitzer´sche
Ansatz damit noch nicht überholt. Schweitzer selbst hat seine Überlegungen
mit starken Relativierungen gefeit. Der ethische Wille emanzipiert sich bei
ihm weitgehend von Erkenntnis, ohne sich der Erkenntnis zu verschließen.
Ich vermute, daß kaum eine neuere inhaltliche Ethik eine gedankliche
Wucht, Fruchtbarkeit und Ausstrahlungskraft erreicht wie Schweitzers Konzept
- auch nicht die >impliziten Ethiken in
>Systemen
wie >Psychoanalyse, >Marxismus,
>Existentialismus, >Anthroposophie und ähnlichem. Das legt die Frage nahe: Wie
verhält sich die Ethik der "Einvernehmlichkeit" zur Ethik der
"Ehrfurcht vor dem Leben"? Sind sie miteinander verträglich
oder unverträglich? Bestreichen sie verschiedene Dimensionen? Läßt sich die
eine auf die andere zurückführen - vielleicht sogar beide jeweils auf die andere
zurückführen - sind sie also vielleicht >äquivalent?
Um diesen Fragen nachzugehen,
müßte man die Grundannahmen der beiden Ethiken näher unter die Lupe nehmen.
Was setzen die Ethiken voraus? Wie bilden sie die grundlegenden Begriffe? |
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"Einvernehmlichkeit" setzt Willen voraus,
aber keine Inhalte dieser Willen. |
Das Konzept
"Einvernehmlichkeit" setzt irgendeinen "Willen" als >evident
(unhinterfragt klar, unmittelbar einleuchtend) voraus. Wie dieser Willen
beschaffen ist, was er zum Inhalt hat, wird zunächst dahingestellt, woher er
kommt, wodurch er bedingt ist, was sonst noch "dahinter" ist,
ebenfalls. Wenn "Wille" vorausgesetzt wird, kann auch angenommen
werden, daß das ">Subjekt" eines Willens vorausgesetzt
wird. Das Konzept der Einvernehmlichkeit setzt darüber voraus, daß mehr
als ein einziger Wille auf der Welt vorhanden ist, und daß diese Willen -
dahingestellt, ob nur zwei oder auch mehr - miteinander in Beziehung treten
können. Schließlich setzt "Einvernehmlichkeit" noch voraus, daß
es entscheidbar ist, wann zwei oder mehrere Willen einvernehmlich sind,
also "im Einklang", oder "einig" oder
"parallel" sind. Das muß nicht unbedingt bedeuten, daß sie das
Gleiche wollen, aber daß der eine Wille nicht dem anderen widerspricht.
Eine weitere Frage wäre, ob auch so etwas wie die "Durchsetzung"
eines Willens, die "Realisierung seiner Inhalte", die "Durchführung
eines Vorhabens" oder ähnliches bei dem Konzept der Einvernehmlichkeit
vorausgesetzt wird. Zunächst kann wohl sogar das dahingestellt bleiben;
"Einvernehmlich oder nicht" - diese Frage könnte entscheidbar
sein, auch ohne daß etwas real durchgesetzt werden muß. |
Hintergrund des Willensbegriffs: Alltags-Erfahrung "Einvernehmlichkeit" Basis bürgerlichen
Rechts |
All solche Philosophie von
Willen, die miteinander in einvernehmliche oder nichteinvernehmliche
Beziehung treten können, wird sich zunächst speisen aus der Alltags-Erfahrung,
von der Erinnerung an Streit und Versöhnung unter Kindern; an Streit und
Zusammenarbeit zwischen Nachbarn, an Einigung und Nicht-Einigung von
Partnern auf einem Markt, an Zwist und Einigung vor Gericht. Vorausgesetzt
werden wohl zunächst mal die Willen rechtsfähiger Subjekte
(§ 1 BGB: "Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der
Vollendung der Geburt"), im engeren Sinne von geschäftsfähigen
Subjekten. Solche Grundvorstellungen (hier nur grob skizziert) stehen wohl hinter
dem Konzept der Einvernehmlichkeit und damit hinter dem bürgerlichen Recht
überhaupt. |
Alle Begriffe des Sprachspiels "Ethik"
können von außen betrachtet und relativiert werden ... |
Dennoch: "Wille",
"Subjekt", "in Beziehung treten", "Einigung",
"Einvernehmlichkeit" - je mehr Begriffe wir zur Untermalung des
Konzepts "Einvernehmlichkeit" heranziehen, desto mehr Fragezeichen
müssen wir auch zulassen. Denn alle solche Begriffe - hier als ethische bzw.
rechtliche Grundannahmen ("Axiome") verwendet, kann man auch von
außen anschauen, von anderen Gesichtspunkten, anderen wissenschaftlichen
Disziplinen aus. Was zum Beispiel ein "Wille" ist, das kann man psychologisch
untersuchen, oder auch vor dem Hintergrund der Evolution, oder sprachtheoretisch.
Was die Ausdrücke "Einigung", "Einvernehmlichkeit" im
Lauf der Sprachgeschichte bedeutet haben, in welchen Zusammenhängen diese
Ausdrücke verwendet wurden, das kann die Sprachwissenschaft untersuchen. |
... doch nicht gleichzeitig, wenn man das Spiel
spielen möchte. |
Solche Überlegungen kann man
anstellen - man kann dann auch überlegen, ob aus solchen Überlegungen
Anregungen gewonnen werden können, die rechtlich-ethischen Grundannahmen zu
ändern. Man kann aber nicht Spielregeln für die Formulierung einer Ethik aufstellen
und sie gleichzeitig dadurch brechen, daß man sie aus irgendwelchen
Gesichtspunkten, die außerhalb des Spiels liegen, in Frage stellt. Eine
solche Spielverderberei wurde zwar unter dem Stichwort "Verunsicherung"
in einer gewissen Periode "linker" Systemkritik als taktisches
Mittel für gewisse Ziele eingesetzt. Wer aber so etwas allzu oft machte, der
wurde über kurz oder lang als Mitspieler nicht mehr ernstgenommen. Das heißt
nicht, daß man nicht jeden einzelnen Begriff in einem eigenen Spiel
"reflektieren" kann, bis hin zur Ersetzung durch andere, besser
geeignete Begriffe - warum sollte man prinzipielle Grenzen für die Reflexion
von Begriffen annehmen? - Man kann aber nicht gleichzeitig alle Begriffe
in Frage stellen - sonst kann man sich gar nicht mehr verständlich machen;
man gilt dann als verrückt. |
Man kann das Sprachspiel "Ethik" auch
dann erfolgreich spielen, wenn man vieles dahingestellt sein läßt. |
Deshalb kann man sicher erfolgreich
eine Ethik oder eine Rechtsphilosophie auf die Begriffe "Wille" und
"Einvernehmlichkeit" und die Alltagsvorstellungen davon stützen,
auch wenn man dahingestellt sein läßt, was sich im einzelnen hinter so etwas
wie "Wille" oder "Einvernehmlichkeit" für komplexe
Verwicklungen auftun, wenn man gründlicher nachbohrt. Was aber in diesem Zusammenhang
- Beziehung zur Ethik der "Ehrfurcht vor dem Leben" - interessiert,
das ist wohl vor allem, welche naheliegenden Verallgemeinerungs- und Differenzierungsmöglichkeiten
in den Begriffen stecken - über die Alltagsvorstellungen hinaus. |
2.1.
Verallgemeinerung: "Wille" nicht unbedingt nur
menschlicher Wille |
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Begriff "Wille" ist stark
verallgemeinerbar. |
Da wäre erstens die
Verallgemeinerung, daß "Wille" nicht nur menschlicher Wille sein
müßte. Sicher hat jeder Dackel einen ausgeprägten Willen - und wenn man genauer
hinschaut, könnte es plausibel sein, sogar einem Schneestern einen "Formwillen"
zuzuschreiben. Der Begriff des Willens ist also stark verallgemeinerbar -
damit auch der damit zusammenhängende Begriff des Subjekts (hier
nicht näher ausgeführt). Damit erweitern sich wohl auch die Möglichkeiten
für Beziehungen zwischen verschiedenen Willen; die Tür geht auf zu einer
Anerkennung der Tiere als "Mitgeschöpfe", also als Rechtssubjekte.
Und wenn Tiere, dann auch andere Mitgeschöpfe. In den USA können schon heute
die Interessen z.B. eines Flusses oder einer Tierpopulation vor Gericht von
Anwälten vertreten werden (vgl. Stone 1987). |
2.2. Differenzierung: Wille
eines einzigen Menschen nicht
unbedingt einheitlich |
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"Wille" eines Menschen kann komplexe Überlagerung verschiedener
"Willen", etwa aus verschiedenen Gehirnteilen sein. |
Ausgehend von der
Alltagserfahrung - "Ich weiß nicht, was ich will", "zwei
Seelen, ach, in meiner Brust", über schnoddrige Verallgemeinerungen
- "der Mensch ist eine Versammlung von Personen" und der
Theorie von der relativen Unabhängigkeit der verschiedenen Hirnteile -
linke und rechte Großhirnhälfte, Kleinhirn, Rückenmark - und den
verschiedenen, den Gehirnteilen entsprechenden "Ichs", die ein
einziger Mensch haben soll oder haben könnte, kann man dazu kommen, daß man
unterstellt, daß im Normalfall "ein" Wille sich aus der
Überlagerung einer ganzen Reihe von Teilwillen ergibt, und daß im Einzelfall
auch komplizierte Umkippvorgänge die Entscheidung darüber, was nun wirklich
"der" Wille eines Menschen ist, recht schwierig machen können. Das
würde die logische Konsistenz einer Ethik der Einvernehmlichkeit nicht in
Frage stellen, aber ihre Anwendbarkeit erschweren. Eventuell könnte die
Entscheidung darüber, was überhaupt der Wille eines Menschen ist, erst
durch Aufsummierung aller Möglichkeiten gewonnen werden - vielleicht ein
Verfahren, das den Verfahren in der Quantentheorie ähnelt (vgl. v.
Weizsäcker 1985). Allerdings könnte die normale Ethik der Einvernehmlichkeit
auch auf die verschiedenen inneren Willen eines Menschen - allgemeiner,
eines Subjektes ausgedehnt werden. |
Fraktal verästelte Einvernehmlichkeit |
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Rückgekoppelte Wechselwirkung zwischen verschiedenen
Willen ergibt fraktal verästelte Einvernehmlichkeit ... |
Nicht nur aus der möglichen
und sogar wahrscheinlichen inneren Vielfalt eines menschlichen Willens könnten
Erschwernisse für die Anwendbarkeit des Konzeptes der Einvernehmlichkeit
entstehen - auch aus der gegenseitigen Beeinflussung von Willen, der vielfachen
Rückkopplung. Im Extrem führt das zur Vorstellung einer fraktal
verästelten Einvernehmlichkeit. Wenn nun auch noch zwischen den verschiedenen
Willen innerhalb eines Subjektes Wechselwirkungen angenommen werden, außerdem
angenommen wird, daß die verschiedenen Willen der verschiedenen
beteiligten Subjekte sich auch noch nichtlinear, also auf- oder abschaukelnd
gegenseitig beeinflussen können, dann hat man also als Grundmuster ein hochkomplexes
dynamisch-labiles Beziehungsgeflecht, zart wie Seifenblasen oder vielleicht
besser wie stehende Wellen in einem vibrierenden Gefäß. |
... die damit aber als Begriff nicht hinfällig
wird. |
Das alles macht aber das
Konzept der Einvernehmlichkeit nicht zunichte, sondern öffnet es für eine
Differenzierung, die im Einzelfall, durchaus aber nicht in jedem Fall nützlich
sein mag. Es gibt Analogien zu solchen Differenzierungsmöglichkeiten in
vielen anderen Bereichen. Ein Baustatiker berechnet ein Gebäude bis zu
einer gewissen Genauigkeit. Daß selten Gebäude einstürzen, rechtfertigt
dieses Vorgehen. Trotzdem könnte er noch sehr viel genauer vorgehen - die verschiedenen
Werkstoffe bis auf ihre Grenzbelastung prüfen, die Kombinationen von Werkstoffen
gesondert, Spezialeinflüsse, etwa des Windes, der unterschiedlichen Erwärmung
durch die Sonne, durch Heizung usw. einrechnen und ähnliches. So etwas macht
man jedoch nur bei speziellen Bauten - etwa einem exaltierten Bau wie dem
Münchner Hypo-Hochhaus. Bei normalen Wohnhäusern in der Zeile lohnt so
etwas nicht; die Einflüsse sind so minimal, daß man sie womöglich gar nicht
in unterschiedlichen Bemessungen berücksichtigen kann. Ähnlich wird es
in der großen Masse der Streitfälle vor Gericht sein. Es ist schließlich
entscheidbar, was der eine wollte, was der andere, und wer die
Einvernehmlichkeit brach. Trotzdem ist es gut zu wissen, daß man noch
genauer werden könnte, wenn es drauf ankäme. |
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Die Ethik der "Ehrfurcht vor dem Leben" geht
von einigen inhaltlichen Grundannahmen aus ... |
Wenn wir bisher die
Einvernehmlichkeit und den Willensbegriff dahinter näher betrachtet haben -
wie schaut es entsprechend bei "Ehrfurcht vor dem Leben" aus?
Albert Schweitzer geht aus von dem Satz "Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das
leben will." und erläutert: "Wie in meinem Willen zum Leben Sehnsucht ist nach dem
Weiterleben und nach der geheimnisvollen Gehobenheit des Willens zum Leben,
die man Lust nennt, und Angst vor der Vernichtung und der geheimnisvollen
Beeinträchtigung des Willens zum Leben, die man Schmerz nennt, also auch in
dem Willen zum Leben um mich herum, ob er sich mir gegenüber äußern kann
oder ob er stumm bleibt." "Ethik besteht also darin, daß ich die Nötigung erlebe,
allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen
wie dem eigenen. Damit ist das denknotwendige Grundprinzip des Sittlichen gegeben.
Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern; böse ist, Leben
vernichten und Leben hemmen." "Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen
alles, was lebt." |
... und entwirft daraus ein elementares ethisches
Konzept. |
Damit zeigt sich, daß bei
Schweitzer dem "Willen" mehr Inhalt unterstellt wird als im
Konzept "Einvernehmlichkeit". Nicht ein >abstrakter
Wille tritt auf, dessen Inhalte man dahingestellt sein läßt, sondern ein
weniger abstrakter "Wille zum Leben". Schweitzer scheut sich
nicht, eine elementare Beschreibung dessen zu geben, was er dem "Willen
zum Leben" unterstellt. |
Albert Schweitzer kannte noch nicht moderne
wissenschaftliche Theorien über lebende Systeme ... |
Es fragt sich, ob auch vor
heutiger wissenschaftlicher Sicht das, was Schweitzer als Inhalt von
"Willen zum Leben" unterstellt, haltbar ist, oder relativiert
werden muß. Willen zum Leben als Willen zum Weiterleben zu fassen ist wohl
in erster Annäherung korrekt. Allerdings erlaubt heute das Konzept der Gen-
und Mem-Evolution, genauer anzugeben, was da eigentlich weiterlebt, und was
so konstruiert ist, daß es weiterlebt - es sind genetisch und über Tradition
weitergegebene Programme, allgemeiner "Formen", die ihre eigene
Vervielfältigung in ihrer >Umwelt fördern - anderenfalls
sie durch andere Programme, die dies besser leisten, verdrängt worden
wären. Diese Programme, diese Formen fallen nicht mit dem individuellen Lebewesen
zusammen - insofern verhalten sich nicht die Lebewesen primär individuell
egoistisch, also nach ihren eigenen Interessen, sondern die Programme. Im
weiten Bereichen fallen beide Interessen zusammen; sie können aber auch
- etwa bei der Selbstaufopferung einer Mutter für ihre Kinder - auseinanderfallen.
Diese Präzisierung von "Willen zum Leben" braucht aber Schweitzers
Konzept der "Ehrfurcht vor dem Leben" nicht zu stören; sowohl
Lebewesen, als auch einzelne Gene, als auch Symbiosen von Genen oder
abstrakter Formen könnten als Einheiten mit "Willen zum Leben"
betrachtet werden - der Wille zum Leben könnte also als ähnlich fraktales
Überlagerungsprodukt aufgefaßt werden wie vorhin der menschliche Wille. |
... manche Formulierung mag heute etwas veraltet sein,
... ... doch hinreichend allgemeine Begriffe feien sein
Konzept. |
Man könnte sich stören an der
Unterstellung von Lust- und Schmerz-Empfindungen bei allem Willen zum Leben -
wenn man die Evolution von Lust- und Schmerz-Empfindung berücksichtigt, und
den vor dem Hintergrund der Evolution anderen Charakter des Leidens etwa bei
seßhaften Pflanzen im Vergleich zu beweglichen Tieren. Dennoch kann man
sich hinreichend allgemeine Fassungen der Begriffe von Lust und Schmerz
denken, die Schweitzers Unterstellungen gegen vordergründige Kritik feien.
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Schweitzers "Denknotwendigkeit", die er
für seine Ethik in Anspruch nimmt, bedeutet keine Folgerung eines "Sollte"
aus einem "Ist" ... |
Man kann schließlich an der
"Nötigung" zweifeln, die Schweitzer ethischem Denken unterstellt,
anderem Leben die gleiche Ehrfurcht entgegenzubringen wie dem eigenen.
Zweifellos gibt es Leben, das gerade aus Rücksichtslosigkeit anderem Leben
gegenüber Vorteile zieht. Die "Nötigung" kann also wohl nicht als
physische Nötigung gemeint sein. Man braucht aber wohl nicht einmal die
"Nötigung", von der Schweitzer spricht. Wenn man relativiert:
"Wenn ich unterstelle, daß anderer Wille zum Leben meinem
eigenen Willen zum Leben ähnelt, und wenn ich anderem Willen zum Leben
ähnliche Rücksicht wie meinem eigenen Leben entgegenbringen möchte, dann
muß ich mich so und so verhalten." |
... sondern die innere Stimmigkeit eines ethischen
Konzepts. |
Schweitzers Verdienst wäre dann
nicht, aus irgendeiner Erkenntnis eines "Ist", und sei es auch aus
der eventuell zirkulären Erkenntnis, daß "ich Willen zum Leben bin,
inmitten von anderem Willen zum Leben", ein "Sollte" logisch
zwingend abzuleiten - was nicht gehen kann, wenn man nicht dafür eine
spezielle Logik konstruieren wollte - sondern einem ethischen Willen, oder
allgemeiner, einer ethischen Vision, nämlich der Vision der Vereinigung
der Willen zum Leben, eine plausible Gestalt, eine Art "Architektur"
gegeben zu haben, die es relativ schwer macht, einzelne Stücke davon
herauszubrechen, ohne das Ganze zu entstellen. Die "Nötigung"
wäre dann eher ästhetischer Art - und wenn Ästhetik selber ethisch gedeutet
wird, eine Art Selbstbezüglichkeit eines Denksystems. Schweitzers Ethik
wäre dann als Entwurf, als Konzept, weniger als Erkenntnis zu deuten. |
4.
Beziehung zwischen den Konzepten Wie schaut es also zwischen
beiden Konzepten aus: "Einvernehmlichkeit" oder "Ehrfurcht vor
dem Leben"? |
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"Einvernehmlichkeit" und "Ehrfurcht
vor dem Leben" scheinen nicht unverträglich zu sein. |
Ganz unverträglich scheinen
beide nicht zu sein. Ich habe aber nicht den Eindruck, daß das eine Konzept
sich unbedingt dem anderen unter- und einordnen müßte, sondern eher, daß
beide mehr oder weniger äquivalent gemacht werden können - allerdings nur
dann, wenn man gewisse Verallgemeinerungen in den zugrundeliegenden
Begriffen vornimmt. Wie könnte das passieren? |
4.1. Ehrfurcht vor dem Leben schließt Einvernehmlichkeit in sich |
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Wenn eine Verletzung der
Einvernehmlichkeit in der Beziehung zwischen verschiedenen Willen den beteiligten
Willen Schmerz bereitet und ihre weitere Entfaltung stört, vielleicht sogar
schädigt, dann ist zweifellos eine Verletzung des Prinzips "Leben
erhalten und fördern" gegeben; so etwas ist "Leben hemmen",
also nach Schweitzers Definition böse. |
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Eine Schwierigkeit kann sich
aber daraus ergeben, daß die abstrakten Willen, die das Konzept der Einvernehmlichkeit
unterstellt, gar nicht das wollen, was Schweitzer unterstellt, nämlich
weiterleben, Lust aufsuchen, Schmerz vermeiden, sich entfalten usw. |
Kann ein Wille eines lebenden Subjektes sein Leben
beenden wollen? Wie steht "Ehrfurcht vor dem Leben" einem solchen
Willen gegenüber? |
Was ist, wenn ein Wille eines
lebenden Subjektes sein Leben beenden will? - Immerhin soll Selbstmord die
vierthäufigste Todesursache sein; die DGHS (Deutsche Gesellschaft für
humanes Sterben) hat zigtausend Mitglieder. Was ist auch, wenn sich ein
lebendes Subjekt zum Beispiel einer Sucht hingibt, die zweifellos sein Leben
im medizinischen Sinn schädigt und verkürzt? Hier ist zwar das Streben nach
Lust im Gang, das Streben nach Weiterleben jedoch beiseitegedrängt. |
Sind ganzheitlich-komplexe inhaltliche Konzepte
die Lösung ... |
Nach allem Anschein haben wohl
Schweitzer - immerhin war er auch Arzt - spezifische, aber vom individuellen
Leben her ganzheitlich gedachte oder gefühlte Gesamtkonzepte von
Lebensentfaltung vorgeschwebt, aus denen er sich Kriterien abgeleitet
hat für das Verhalten gegenüber einzelnen Willen von lebenden Subjekten,
die er mit der konkreten Situation in Beziehung brachte. Allem Anschein nach
war Schweitzer kein radikal liberaler Verfechter etwa einer "gesundheitlichen
Selbstbestimmung". Die Hilflosigkeit, in die man
vor selbstvernichtenden oder auch vor schlicht unverständlichen,
"verrückten" Willen kommen kann (Beispiel: Selbstverstümmler in der
Psychiatrie), war sicher Schweitzer nicht unbekannt - er selbst schildert
den Jammer seiner psychiatrischen Patienten, etwa mit Tobsuchts-Anfällen,
oder auch, wie manche Patienten sich, etwa durch mangelnde Hygiene, entgegen
ärztlicher Anweisung in Gefahr oder gar zu Tode gebracht haben. |
... oder vielleicht besser eine differenzierende
Respektierung auch einzelner "Teil"-Willen? |
Ich kann mir aber vorstellen,
daß Schweitzer heute - vor dem Hintergrund des Konzepts der Gen- und Mem-Evolution
- auch den einzelnen, "verrückten" Willen ein eigenes Leben
zuschreiben würde und dann eine Aufgabe einer Ethik der Ehrfurcht vor dem
Leben darin sehen könnte, zwischen den Willen zu vermitteln, die in unverständlichem
Krieg liegen - auch im Innern eines einzigen Menschen - ähnlich, wie er
sich um die geistige Vermittlung im Wettrüsten des Kalten Krieges bemüht
hat. Mit einer solchen
Verallgemeinerung des Begriffs "Leben" hinein in die kleinsten
Teilsysteme lebender Wesen - die Schweitzer wohl nicht fremd gewesen wäre -
könnte die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben auch dann die Ethik der Einvernehmlichkeit
mit einschließen, wenn es "irgendwelche" Willen sind, mit denen
es Ethik zu tun hat. |
4.2. Konzept "Einvernehmlichkeit" schließt "Ehrfurcht
vor dem Leben" in sich ein. |
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"Einvernehmlichkeit" könnte
"Ehrfurcht vor dem Leben" mit einschließen ... |
Wie schaut es in der
umgekehrten Richtung aus? Hier ist die Verallgemeinerung vielleicht noch
leichter als in der anderen Richtung - vorausgesetzt, - als "Willen" werden nicht nur menschliche Willen unterstellt. Die oben angedeuteten
Differenzierungen (Uneinheitlichkeit von Willen von Subjekten, insbesondere
menschlicher Subjekte; fraktale Verfeinerung infolge Rückkopplung) sind wohl
nicht unbedingt Voraussetzung dafür, daß "Einvernehmlichkeit"
"Ehrfurcht vor dem Leben" mit einschließt. |
... wenn die vorausgesetzten Willen nicht nur
menschliche Willen sein sollen ... |
Wenn
"Einvernehmlichkeit" konventionell juristisch nur auf menschliche
Willen bezogen wird - wie es wohl zu Schweitzers Zeit gängig war, dann ist
das Konzept "Einvernehmlichkeit" zu eng, um "Ehrfurcht vor
dem Leben" mit zu fassen. Schweitzer ging es ja gerade darum, die >anthropozentrische,
also nur auf den Menschen bezogene Sicht der bisherigen abendländischen
Ethik aufzubrechen. Insofern ist er wohl mit einer der Vordenker moderner
Umwelt-Ethik geworden. Das unter dem Konzept "Einvernehmlichkeit"
wieder zurückschrauben zu wollen, wäre ganz indiskutabel. |
... sondern so etwas wie allgemeine "Interessen" |
Wenn aber die Begriffe
"Einvernehmlichkeit" und "Wille" weit gefaßt werden (im
juristischen Bereich wird bei der Diskussion des Umweltrechts stattdessen der
Begriff des "Interesses" verallgemeinert - mit ähnlicher
Wirkung), dann müßte der allgemeine "Wille", der im Konzept
"Einvernemlichkeit" unterstellt wird, den speziellen "Willen
zum Leben" (mit allen etwaigen Qualitäten) als Spezialfall mit umfassen.
Die Ethik der
"Einvernehmlichkeit" würde dann die Ethik der "Ehrfurcht vor
dem Leben" mit umfassen. |
5.
Folgerung: Äquivalenz beider Ethiken Der Leser ahnt, wie es
weitergeht: |
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Zwei Ethiken, von denen jede die andere mit einschließt,
sind äquivalent ... |
- Wenn - bei hinreichender Verallgemeinerung des Lebensbegriffs
- die Ethik der "Ehrfurcht vor dem Leben" die Ethik der
"Einvernehmlichkeit" in sich aufnehmen kann, - wenn gleichzeitig - bei hinreichender Verallgemeinerung
des Willensbegriffs - die Ethik der "Einvernehmlichkeit" die
Ethik der "Ehrfurcht vor dem Leben" in sich aufnehmen kann, dann folgt daraus, daß beide
Ethiken als äquivalent betrachtet werden können. |
... wenn gewisse begriffliche Verallgemeinerungen
akzeptiert werden - |
Das bedeutet nicht, daß sie
in jedem Sprachmilieu und für jede Zielgruppe äquivalent sein müßten. Die notwendigen
Verallgemeinerungen müssen ja nicht unbedingt mitgemacht werden. Es könnte
Leute geben, die sich gerade gegen diese Verallgemeinerungen wehren. Solche
Leute müßten sich deshalb zwischen den Ethiken entscheiden - oder eine
ganz andere Ethik vorschlagen. |
... das bedeutet große Chancen. |
Eine Äquivalenz beider
Ethiken könnte aber, positiv betrachtet, die Chance eröffnen, Begriffsmuster
aus beiden miteinander zu verknüpfen - zum Nutzen ethischen Denkens, und
vielleicht letztlich auch Verhaltens. |
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Levi, S.: KL - Künstliches Leben
aus dem Computer. München: Droemer-Knaur 1993 Schweitzer, A.: Kultur und Ethik. München: Beck 1960 (Original
1923) Stone, C.: Umwelt vor Gericht -
die Eigenrechte der Natur. München: Trickster 1987
(1974) Tomášek, W.: Umwelt als Mitwelt -
Öko-Ethik? in: Gestalt finden für die tägliche Umwelt: ´Ökodesign´ geht uns
alle an. München: Urbanes Wohnen 1992 Weizsäcker, C. F. v.: Aufbau der
Physik. München: Hanser 1985 |
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Begriffe, wie sie hier
verwendet werden: |
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abstrakt = nichtgegenständlich,
verallgemeinert Anthroposophie = von Rudolf Steiner begründetes
Denk- und Lehrgebäude, das den Geist des Menschen mit dem Geist der Welt zu
verbinden sucht anthropozentrisch = den Menschen in den Mittelpunkt
der Dinge stellend äquivalent = im betreffenden Zusammenhang
gleichwertig, gleichbedeutend Ehrfurcht vor dem Leben = nach A. Schweitzer
Grundprinzip des Sittlichen Einvernehmlichkeit = Zusammengehen von zwei
oder mehreren Willen. Grundlage von Verträgen Ethik = Lehre vom Guten evident = unmittelbar einleuchtend Evolution = Entwicklung, insbesondere
Entwicklung der Lebewesen auf der Erde in gegenseitiger Beeinflussung und
unter Veränderung des inneren Aufbaus. Existentialismus = philosophische Strömung,
die das menschliche Dasein in den Mittelpunkt stellt fraktal = in immer ähnlicher Weise
bis ins Unendliche fein verästelt Gen = Einheit der biologischen
Erbsubstanz, ein Abschnitt auf dem Kettenmolekül DNS. implizit = einbegriffen,
eingeschlossen Information = Ungewißheit von
Ereignissen, gleichzeitig (bis auf das Vorzeichen) aber auch das Wissen, das
die Ungewißheit aufhebt. Einheit der Information: eine Ja/Nein-Entscheidung
(Bit) Marxismus = weitgespanntes, vor allem
auf Karl Marx zurückgehendes Lehrgebäude, an dessen Anfang die Kritik an
den Ungerechtigkeiten des Kapitalismus stand Mem = gedachte Grundeinheit
kultureller und technischer Information, entsprechend dem >Gen Ökologie = Wissenschaft von den Wechselwirkungen,
insbesondere dem Stoff- und Energieaustausch der Lebewesen mit ihrer Umwelt Psychoanalyse = von Sigmund Freud begründetes
Lehrsystem zur Deutung psychischer Vorgänge. Erhebt einen therapeutischen
Anspruch. Subjekt = (hier) Gegenstand, der
Information aufnehmen kann und gerichtetes Verhalten zeigt. Mit hinreichend
allgemeinen Fassungen der Begriffe "Information" und "gerichtetes
Verhalten" kann jeder Gegenstand als Subjekt betrachtet werden Synergetik = Lehre vom Aufbau komplexer
Ordnung aus dem zunächst chaotischen Zusammenwirken vieler Einzelelemente System = Gesamtheit von Elementen,
die untereinander, bei offenen Systemen auch mit ihrer >Umwelt in
Beziehung stehen. Umwelt = Im allgemeinen Sinn =
Gesamtheit aller >Systeme, die mit einem bestimmten System in Beziehung
stehen. Im engeren Sinn = die Gesamtheit der natürlichen Systeme, die mit
der menschlichen Zivilisation in Beziehung stehen, also Gestein und Boden,
Gewässer, Lufthülle, Pflanzen- und Tierwelt. Wille = (hier) Grundbegriff. Anwendung
muß nicht auf menschlichen Willen beschränkt werden. |
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