| 
      | 
 |
| 
      | 
  
      | 
 
| 
   Zwei Ethiken
  in eins?  | 
  
      | 
 
| 
   "Einvernehmlichkeit"
  und "Ehrfurcht vor dem Leben"  | 
  
      | 
 
| 
      | 
  
   Bürgertext  | 
 
| 
      | 
  
   3  | 
 
| 
      | 
  
   Stand 1.9.2001 (1995)  | 
 
| 
      | 
  
      | 
 
| 
      | 
  |
| 
      | 
  
      | 
 
 
 
 
         2.1. Verallgemeinerung:
"Wille" nicht unbedingt nur menschlicher Wille
         2.2. Differenzierung: Wille eines
einzigen Menschen nicht unbedingt einheitlich
         2.3. Differenzierung: Fraktal
verästelte Einvernehmlichkeit
 
 
4.
Beziehung zwischen den Konzepten
         4.1. Ehrfurcht vor dem Leben schließt
Einvernehmlichkeit in sich ein
         4.2. Konzept
"Einvernehmlichkeit" schließt "Ehrfurcht vor dem Leben" ein
 
5.
Folgerung: Äquivalenz beider Ethiken
 
 
| 
     Begriffe: Anklicken der im Haupttext
  mit ">" markierten Begriffe führt zur Erläuterung. Nochmaliges
  Anklicken des Begriffs bei der Erläuterung führt zurück zur Lesestelle.    | 
 
 
| 
          | 
  
      | 
 
| 
      | 
  
  
      | 
 
| 
   "Einvernehmlichkeit", Kern rechtlicher
  Ethik, ...          | 
  
   Wenn ">Einvernehmlichkeit"
  - das Zusammenlaufen zweier oder mehrerer >Willen -
  unabhängig davon, ob einfach gedacht, oder in >fraktaler
  Verfeinerung - als Grundlage für Verträge und damit als Kern bürgerlich-rechtlicher
  >Ethik
  gelten kann, dann kann man die Frage stellen, wie eine solche Ethik sich
  verhält zu anderen ethischen Denkansätzen.     | 
 
| 
   ... wie steht sie zu anderen Ethiken, insbesondere
  der Ethik der "Ehrfurcht vor dem Leben"?                                                                                              | 
  
   Besonderes Gewicht in der
  ethischen Diskussion dürfte nach wie vor Albert Schweitzers Ethik der >Ehrfurcht vor dem Leben" haben - auf diese
  allgemeine Ethik berufen sich zumindest etliche abgeleitete, auch
  rechtliche und politische Ethiken. Albert Schweitzer hat seine Ethik in den
  frühen Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts veröffentlicht.    -    Wenn auch durch die Entwicklung von >Ökologie,
  >Evolutionstheorie,
  >Synergetik und jetzt auch die Evolution künstlichen
  Lebens im Computer (vgl. Levi 1993) inzwischen die gedanklichen Grundlagen
  vertieft und präzisiert wurden,    -    wenn auch die akademische Ethik-Diskussion, insbesondere
  auf sprachanalytischem Gebiet, manche Präzisierung gebracht hat,    -    wenn auch vor dem Hintergrund der Ökologie der Ideen (">Meme"
  als Einheiten kulturell-technischer Tradition analog zu den ">Genen"
  als Einheiten der genetischen Tradition ...) eine tiefgreifende Relativierung
  von Ethik überhaupt möglich ist,    so ist der Schweitzer´sche
  Ansatz damit noch nicht überholt. Schweitzer selbst hat seine Überlegungen
  mit starken Relativierungen gefeit. Der ethische Wille emanzipiert sich bei
  ihm weitgehend von Erkenntnis, ohne sich der Erkenntnis zu verschließen.
  Ich vermute, daß kaum eine neuere inhaltliche Ethik eine gedankliche
  Wucht, Fruchtbarkeit und Ausstrahlungskraft erreicht wie Schweitzers Konzept
  - auch nicht die >impliziten Ethiken in
  >Systemen
  wie >Psychoanalyse, >Marxismus,
  >Existentialismus, >Anthroposophie und ähnlichem.    Das legt die Frage nahe: Wie
  verhält sich die Ethik der "Einvernehmlichkeit" zur Ethik der
  "Ehrfurcht vor dem Leben"? Sind sie miteinander verträglich
  oder unverträglich? Bestreichen sie verschiedene Dimensionen? Läßt sich die
  eine auf die andere zurückführen - vielleicht sogar beide jeweils auf die andere
  zurückführen - sind sie also vielleicht >äquivalent?
     Um diesen Fragen nachzugehen,
  müßte man die Grundannahmen der beiden Ethiken näher unter die Lupe nehmen.
  Was setzen die Ethiken voraus? Wie bilden sie die grundlegenden Begriffe?         | 
 
| 
  
      | 
 |
| 
   "Einvernehmlichkeit" setzt Willen voraus,
  aber keine Inhalte dieser Willen.            | 
  
   Das Konzept
  "Einvernehmlichkeit" setzt irgendeinen "Willen" als >evident
  (unhinterfragt klar, unmittelbar einleuchtend) voraus. Wie dieser Willen
  beschaffen ist, was er zum Inhalt hat, wird zunächst dahingestellt, woher er
  kommt, wodurch er bedingt ist, was sonst noch "dahinter" ist,
  ebenfalls. Wenn "Wille" vorausgesetzt wird, kann auch angenommen
  werden, daß das ">Subjekt" eines Willens vorausgesetzt
  wird. Das Konzept der Einvernehmlichkeit setzt darüber voraus, daß mehr
  als ein einziger Wille auf der Welt vorhanden ist, und daß diese Willen -
  dahingestellt, ob nur zwei oder auch mehr - miteinander in Beziehung treten
  können. Schließlich setzt "Einvernehmlichkeit" noch voraus, daß
  es entscheidbar ist, wann zwei oder mehrere Willen einvernehmlich sind,
  also "im Einklang", oder "einig" oder
  "parallel" sind. Das muß nicht unbedingt bedeuten, daß sie das
  Gleiche wollen, aber daß der eine Wille nicht dem anderen widerspricht.
  Eine weitere Frage wäre, ob auch so etwas wie die "Durchsetzung"
  eines Willens, die "Realisierung seiner Inhalte", die "Durchführung
  eines Vorhabens" oder ähnliches bei dem Konzept der Einvernehmlichkeit
  vorausgesetzt wird. Zunächst kann wohl sogar das dahingestellt bleiben;
  "Einvernehmlich oder nicht" - diese Frage könnte entscheidbar
  sein, auch ohne daß etwas real durchgesetzt werden muß.  | 
 
| 
   Hintergrund  des Willensbegriffs: Alltags-Erfahrung           "Einvernehmlichkeit" Basis bürgerlichen
  Rechts    | 
  
   All solche Philosophie von
  Willen, die miteinander in einvernehmliche oder nichteinvernehmliche
  Beziehung treten können, wird sich zunächst speisen aus der Alltags-Erfahrung,
  von der Erinnerung an Streit und Versöhnung unter Kindern; an Streit und
  Zusammenarbeit zwischen Nachbarn, an Einigung und Nicht-Einigung von
  Partnern auf einem Markt, an Zwist und Einigung vor Gericht. Vorausgesetzt
  werden wohl zunächst mal die Willen rechtsfähiger Subjekte
  (§ 1 BGB: "Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der
  Vollendung der Geburt"), im engeren Sinne von geschäftsfähigen
  Subjekten. Solche Grundvorstellungen (hier nur grob skizziert) stehen wohl hinter
  dem Konzept der Einvernehmlichkeit und damit hinter dem bürgerlichen Recht
  überhaupt.     | 
 
| 
   Alle Begriffe des Sprachspiels "Ethik"
  können von außen betrachtet und relativiert werden ...    | 
  
   Dennoch: "Wille",
  "Subjekt", "in Beziehung treten", "Einigung",
  "Einvernehmlichkeit" - je mehr Begriffe wir zur Untermalung des
  Konzepts "Einvernehmlichkeit" heranziehen, desto mehr Fragezeichen
  müssen wir auch zulassen. Denn alle solche Begriffe - hier als ethische bzw.
  rechtliche Grundannahmen ("Axiome") verwendet, kann man auch von
  außen anschauen, von anderen Gesichtspunkten, anderen wissenschaftlichen
  Disziplinen aus. Was zum Beispiel ein "Wille" ist, das kann man psychologisch
  untersuchen, oder auch vor dem Hintergrund der Evolution, oder sprachtheoretisch.
  Was die Ausdrücke "Einigung", "Einvernehmlichkeit" im
  Lauf der Sprachgeschichte bedeutet haben, in welchen Zusammenhängen diese
  Ausdrücke verwendet wurden, das kann die Sprachwissenschaft untersuchen.     | 
 
| 
   ... doch nicht gleichzeitig, wenn man das Spiel
  spielen möchte.    | 
  
   Solche Überlegungen kann man
  anstellen - man kann dann auch überlegen, ob aus solchen Überlegungen
  Anregungen gewonnen werden können, die rechtlich-ethischen Grundannahmen zu
  ändern. Man kann aber nicht Spielregeln für die Formulierung einer Ethik aufstellen
  und sie gleichzeitig dadurch brechen, daß man sie aus irgendwelchen
  Gesichtspunkten, die außerhalb des Spiels liegen, in Frage stellt. Eine
  solche Spielverderberei wurde zwar unter dem Stichwort "Verunsicherung"
  in einer gewissen Periode "linker" Systemkritik als taktisches
  Mittel für gewisse Ziele eingesetzt. Wer aber so etwas allzu oft machte, der
  wurde über kurz oder lang als Mitspieler nicht mehr ernstgenommen. Das heißt
  nicht, daß man nicht jeden einzelnen Begriff in einem eigenen Spiel
  "reflektieren" kann, bis hin zur Ersetzung durch andere, besser
  geeignete Begriffe - warum sollte man prinzipielle Grenzen für die Reflexion
  von Begriffen annehmen? - Man kann aber nicht gleichzeitig alle Begriffe
  in Frage stellen - sonst kann man sich gar nicht mehr verständlich machen;
  man gilt dann als verrückt.     | 
 
| 
   Man kann das Sprachspiel "Ethik" auch
  dann erfolgreich spielen, wenn man vieles dahingestellt sein läßt.  | 
  
   Deshalb kann man sicher erfolgreich
  eine Ethik oder eine Rechtsphilosophie auf die Begriffe "Wille" und
  "Einvernehmlichkeit" und die Alltagsvorstellungen davon stützen,
  auch wenn man dahingestellt sein läßt, was sich im einzelnen hinter so etwas
  wie "Wille" oder "Einvernehmlichkeit" für komplexe
  Verwicklungen auftun, wenn man gründlicher nachbohrt.    Was aber in diesem Zusammenhang
  - Beziehung zur Ethik der "Ehrfurcht vor dem Leben" - interessiert,
  das ist wohl vor allem, welche naheliegenden Verallgemeinerungs- und Differenzierungsmöglichkeiten
  in den Begriffen stecken - über die Alltagsvorstellungen hinaus.        | 
 
| 
   2.1.    
  Verallgemeinerung: "Wille" nicht unbedingt nur
  menschlicher Wille    | 
 |
| 
   Begriff "Wille" ist stark
  verallgemeinerbar.                              | 
  
   Da wäre erstens die
  Verallgemeinerung, daß "Wille" nicht nur menschlicher Wille sein
  müßte. Sicher hat jeder Dackel einen ausgeprägten Willen - und wenn man genauer
  hinschaut, könnte es plausibel sein, sogar einem Schneestern einen "Formwillen"
  zuzuschreiben. Der Begriff des Willens ist also stark verallgemeinerbar -
  damit auch der damit zusammenhängende Begriff des Subjekts (hier
  nicht näher ausgeführt). Damit erweitern sich wohl auch die Möglichkeiten
  für Beziehungen zwischen verschiedenen Willen; die Tür geht auf zu einer
  Anerkennung der Tiere als "Mitgeschöpfe", also als Rechtssubjekte.
  Und wenn Tiere, dann auch andere Mitgeschöpfe. In den USA können schon heute
  die Interessen z.B. eines Flusses oder einer Tierpopulation vor Gericht von
  Anwälten vertreten werden (vgl. Stone 1987).        | 
 
| 
   2.2.  Differenzierung: Wille
  eines einzigen Menschen          nicht
  unbedingt einheitlich    | 
 |
| 
   "Wille" eines Menschen  kann komplexe Überlagerung verschiedener
  "Willen", etwa aus verschiedenen Gehirnteilen sein.                                              | 
  
   Ausgehend von der
  Alltagserfahrung - "Ich weiß nicht, was ich will", "zwei
  Seelen, ach, in meiner Brust", über schnoddrige Verallgemeinerungen
  - "der Mensch ist eine Versammlung von Personen" und der
  Theorie von der relativen Unabhängigkeit der verschiedenen Hirnteile -
  linke und rechte Großhirnhälfte, Kleinhirn, Rückenmark - und den
  verschiedenen, den Gehirnteilen entsprechenden "Ichs", die ein
  einziger Mensch haben soll oder haben könnte, kann man dazu kommen, daß man
  unterstellt, daß im Normalfall "ein" Wille sich aus der
  Überlagerung einer ganzen Reihe von Teilwillen ergibt, und daß im Einzelfall
  auch komplizierte Umkippvorgänge die Entscheidung darüber, was nun wirklich
  "der" Wille eines Menschen ist, recht schwierig machen können. Das
  würde die logische Konsistenz einer Ethik der Einvernehmlichkeit nicht in
  Frage stellen, aber ihre Anwendbarkeit erschweren. Eventuell könnte die
  Entscheidung darüber, was überhaupt der Wille eines Menschen ist, erst
  durch Aufsummierung aller Möglichkeiten gewonnen werden - vielleicht ein
  Verfahren, das den Verfahren in der Quantentheorie ähnelt (vgl. v.
  Weizsäcker 1985). Allerdings könnte die normale Ethik der Einvernehmlichkeit
  auch auf die verschiedenen inneren Willen eines Menschen - allgemeiner,
  eines Subjektes ausgedehnt werden.         | 
 
| 
  
   Fraktal verästelte Einvernehmlichkeit    | 
 |
| 
   Rückgekoppelte Wechselwirkung zwischen verschiedenen
  Willen ergibt fraktal verästelte Einvernehmlichkeit ...            | 
  
   Nicht nur aus der möglichen
  und sogar wahrscheinlichen inneren Vielfalt eines menschlichen Willens könnten
  Erschwernisse für die Anwendbarkeit des Konzeptes der Einvernehmlichkeit
  entstehen - auch aus der gegenseitigen Beeinflussung von Willen, der vielfachen
  Rückkopplung. Im Extrem führt das zur Vorstellung einer fraktal
  verästelten Einvernehmlichkeit. Wenn nun auch noch zwischen den verschiedenen
  Willen innerhalb eines Subjektes Wechselwirkungen angenommen werden, außerdem
  angenommen wird, daß die verschiedenen Willen der verschiedenen
  beteiligten Subjekte sich auch noch nichtlinear, also auf- oder abschaukelnd
  gegenseitig beeinflussen können, dann hat man also als Grundmuster ein hochkomplexes
  dynamisch-labiles Beziehungsgeflecht, zart wie Seifenblasen oder vielleicht
  besser wie stehende Wellen in einem vibrierenden Gefäß.     | 
 
| 
   ... die damit aber als Begriff nicht hinfällig
  wird.                                                  | 
  
   Das alles macht aber das
  Konzept der Einvernehmlichkeit nicht zunichte, sondern öffnet es für eine
  Differenzierung, die im Einzelfall, durchaus aber nicht in jedem Fall nützlich
  sein mag. Es gibt Analogien zu solchen Differenzierungsmöglichkeiten in
  vielen anderen Bereichen. Ein Baustatiker berechnet ein Gebäude bis zu
  einer gewissen Genauigkeit. Daß selten Gebäude einstürzen, rechtfertigt
  dieses Vorgehen. Trotzdem könnte er noch sehr viel genauer vorgehen - die verschiedenen
  Werkstoffe bis auf ihre Grenzbelastung prüfen, die Kombinationen von Werkstoffen
  gesondert, Spezialeinflüsse, etwa des Windes, der unterschiedlichen Erwärmung
  durch die Sonne, durch Heizung usw. einrechnen und ähnliches. So etwas macht
  man jedoch nur bei speziellen Bauten - etwa einem exaltierten Bau wie dem
  Münchner Hypo-Hochhaus. Bei normalen Wohnhäusern in der Zeile lohnt so
  etwas nicht; die Einflüsse sind so minimal, daß man sie womöglich gar nicht
  in unterschiedlichen Bemessungen berücksichtigen kann. Ähnlich wird es
  in der großen Masse der Streitfälle vor Gericht sein. Es ist schließlich
  entscheidbar, was der eine wollte, was der andere, und wer die
  Einvernehmlichkeit brach. Trotzdem ist es gut zu wissen, daß man noch
  genauer werden könnte, wenn es drauf ankäme.         | 
 
| 
  
      | 
 |
| 
   Die Ethik der "Ehrfurcht vor dem Leben" geht
  von einigen inhaltlichen Grundannahmen aus ...            | 
  
   Wenn wir bisher die
  Einvernehmlichkeit und den Willensbegriff dahinter näher betrachtet haben -
  wie schaut es entsprechend bei "Ehrfurcht vor dem Leben" aus?
  Albert Schweitzer geht aus von dem Satz         "Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das
  leben will."     und erläutert:         "Wie in meinem Willen zum Leben Sehnsucht ist nach dem
  Weiterleben und nach der geheimnisvollen Gehobenheit des Willens zum Leben,
  die man Lust nennt, und Angst vor der Vernichtung und der geheimnisvollen
  Beeinträchtigung des Willens zum Leben, die man Schmerz nennt, also auch in
  dem Willen zum Leben um mich herum, ob er sich mir gegenüber äußern kann
  oder ob er stumm bleibt."        "Ethik besteht also darin, daß ich die Nötigung erlebe,
  allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen
  wie dem eigenen. Damit ist das denknotwendige Grundprinzip des Sittlichen gegeben.
          Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern; böse ist, Leben
  vernichten und Leben hemmen."         "Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen
  alles, was lebt."      | 
 
| 
   ... und entwirft daraus ein elementares ethisches
  Konzept.    | 
  
   Damit zeigt sich, daß bei
  Schweitzer dem "Willen" mehr Inhalt unterstellt wird als im
  Konzept "Einvernehmlichkeit". Nicht ein >abstrakter
  Wille tritt auf, dessen Inhalte man dahingestellt sein läßt, sondern ein
  weniger abstrakter "Wille zum Leben". Schweitzer scheut sich
  nicht, eine elementare Beschreibung dessen zu geben, was er dem "Willen
  zum Leben" unterstellt.     | 
 
| 
   Albert Schweitzer kannte noch nicht moderne
  wissenschaftliche Theorien über lebende Systeme ...    | 
  
   Es fragt sich, ob auch vor
  heutiger wissenschaftlicher Sicht das, was Schweitzer als Inhalt von
  "Willen zum Leben" unterstellt, haltbar ist, oder relativiert
  werden muß. Willen zum Leben als Willen zum Weiterleben zu fassen ist wohl
  in erster Annäherung korrekt. Allerdings erlaubt heute das Konzept der Gen-
  und Mem-Evolution, genauer anzugeben, was da eigentlich weiterlebt, und was
  so konstruiert ist, daß es weiterlebt - es sind genetisch und über Tradition
  weitergegebene Programme, allgemeiner "Formen", die ihre eigene
  Vervielfältigung in ihrer >Umwelt fördern - anderenfalls
  sie durch andere Programme, die dies besser leisten, verdrängt worden
  wären. Diese Programme, diese Formen fallen nicht mit dem individuellen Lebewesen
  zusammen - insofern verhalten sich nicht die Lebewesen primär individuell
  egoistisch, also nach ihren eigenen Interessen, sondern die Programme. Im
  weiten Bereichen fallen beide Interessen zusammen; sie können aber auch
  - etwa bei der Selbstaufopferung einer Mutter für ihre Kinder - auseinanderfallen.
  Diese Präzisierung von "Willen zum Leben" braucht aber Schweitzers
  Konzept der "Ehrfurcht vor dem Leben" nicht zu stören; sowohl
  Lebewesen, als auch einzelne Gene, als auch Symbiosen von Genen oder
  abstrakter Formen könnten als Einheiten mit "Willen zum Leben"
  betrachtet werden - der Wille zum Leben könnte also als ähnlich fraktales
  Überlagerungsprodukt aufgefaßt werden wie vorhin der menschliche Wille.     | 
 
| 
   ... manche Formulierung mag heute etwas veraltet sein,
  ...         ... doch hinreichend allgemeine Begriffe feien sein
  Konzept.    | 
  
   Man könnte sich stören an der
  Unterstellung von Lust- und Schmerz-Empfindungen bei allem Willen zum Leben -
  wenn man die Evolution von Lust- und Schmerz-Empfindung berücksichtigt, und
  den vor dem Hintergrund der Evolution anderen Charakter des Leidens etwa bei
  seßhaften Pflanzen im Vergleich zu beweglichen Tieren. Dennoch kann man
  sich hinreichend allgemeine Fassungen der Begriffe von Lust und Schmerz
  denken, die Schweitzers Unterstellungen gegen vordergründige Kritik feien.
      | 
 
| 
   Schweitzers "Denknotwendigkeit", die er
  für seine Ethik in Anspruch nimmt, bedeutet keine Folgerung eines "Sollte"
  aus einem "Ist" ...    | 
  
   Man kann schließlich an der
  "Nötigung" zweifeln, die Schweitzer ethischem Denken unterstellt,
  anderem Leben die gleiche Ehrfurcht entgegenzubringen wie dem eigenen.
  Zweifellos gibt es Leben, das gerade aus Rücksichtslosigkeit anderem Leben
  gegenüber Vorteile zieht. Die "Nötigung" kann also wohl nicht als
  physische Nötigung gemeint sein. Man braucht aber wohl nicht einmal die
  "Nötigung", von der Schweitzer spricht. Wenn man relativiert:
  "Wenn ich unterstelle, daß anderer Wille zum Leben meinem
  eigenen Willen zum Leben ähnelt, und wenn ich anderem Willen zum Leben
  ähnliche Rücksicht wie meinem eigenen Leben entgegenbringen möchte, dann
  muß ich mich so und so verhalten."     | 
 
| 
   ... sondern die innere Stimmigkeit eines ethischen
  Konzepts.                                  | 
  
   Schweitzers Verdienst wäre dann
  nicht, aus irgendeiner Erkenntnis eines "Ist", und sei es auch aus
  der eventuell zirkulären Erkenntnis, daß "ich Willen zum Leben bin,
  inmitten von anderem Willen zum Leben", ein "Sollte" logisch
  zwingend abzuleiten - was nicht gehen kann, wenn man nicht dafür eine
  spezielle Logik konstruieren wollte - sondern einem ethischen Willen, oder
  allgemeiner, einer ethischen Vision, nämlich der Vision der Vereinigung
  der Willen zum Leben, eine plausible Gestalt, eine Art "Architektur"
  gegeben zu haben, die es relativ schwer macht, einzelne Stücke davon
  herauszubrechen, ohne das Ganze zu entstellen. Die "Nötigung"
  wäre dann eher ästhetischer Art - und wenn Ästhetik selber ethisch gedeutet
  wird, eine Art Selbstbezüglichkeit eines Denksystems. Schweitzers Ethik
  wäre dann als Entwurf, als Konzept, weniger als Erkenntnis zu deuten.             | 
 
| 
   4.
  Beziehung zwischen den Konzepten   Wie schaut es also zwischen
  beiden Konzepten aus: "Einvernehmlichkeit" oder "Ehrfurcht vor
  dem Leben"?  | 
 |
| 
      | 
  
      | 
 
| 
   "Einvernehmlichkeit" und "Ehrfurcht
  vor dem Leben" scheinen nicht unverträglich zu sein.            | 
  
   Ganz unverträglich scheinen
  beide nicht zu sein. Ich habe aber nicht den Eindruck, daß das eine Konzept
  sich unbedingt dem anderen unter- und einordnen müßte, sondern eher, daß
  beide mehr oder weniger äquivalent gemacht werden können - allerdings nur
  dann, wenn man gewisse Verallgemeinerungen in den zugrundeliegenden
  Begriffen vornimmt. Wie könnte das passieren?        | 
 
| 
   4.1. Ehrfurcht vor dem Leben schließt Einvernehmlichkeit in sich    | 
 |
| 
                | 
  
   Wenn eine Verletzung der
  Einvernehmlichkeit in der Beziehung zwischen verschiedenen Willen den beteiligten
  Willen Schmerz bereitet und ihre weitere Entfaltung stört, vielleicht sogar
  schädigt, dann ist zweifellos eine Verletzung des Prinzips "Leben
  erhalten und fördern" gegeben; so etwas ist "Leben hemmen",
  also nach Schweitzers Definition böse.     | 
 
| 
      | 
  
   Eine Schwierigkeit kann sich
  aber daraus ergeben, daß die abstrakten Willen, die das Konzept der Einvernehmlichkeit
  unterstellt, gar nicht das wollen, was Schweitzer unterstellt, nämlich
  weiterleben, Lust aufsuchen, Schmerz vermeiden, sich entfalten usw.     | 
 
| 
   Kann ein Wille eines lebenden Subjektes sein Leben
  beenden wollen? Wie steht "Ehrfurcht vor dem Leben" einem solchen
  Willen gegenüber?     | 
  
   Was ist, wenn ein Wille eines
  lebenden Subjektes sein Leben beenden will? - Immerhin soll Selbstmord die
  vierthäufigste Todesursache sein; die DGHS (Deutsche Gesellschaft für
  humanes Sterben) hat zigtausend Mitglieder. Was ist auch, wenn sich ein
  lebendes Subjekt zum Beispiel einer Sucht hingibt, die zweifellos sein Leben
  im medizinischen Sinn schädigt und verkürzt? Hier ist zwar das Streben nach
  Lust im Gang, das Streben nach Weiterleben jedoch beiseitegedrängt.     | 
 
| 
   Sind ganzheitlich-komplexe inhaltliche Konzepte
  die Lösung ...    | 
  
   Nach allem Anschein haben wohl
  Schweitzer - immerhin war er auch Arzt - spezifische, aber vom individuellen
  Leben her ganzheitlich gedachte oder gefühlte Gesamtkonzepte von
  Lebensentfaltung vorgeschwebt, aus denen er sich Kriterien abgeleitet
  hat für das Verhalten gegenüber einzelnen Willen von lebenden Subjekten,
  die er mit der konkreten Situation in Beziehung brachte. Allem Anschein nach
  war Schweitzer kein radikal liberaler Verfechter etwa einer "gesundheitlichen
  Selbstbestimmung".   Die Hilflosigkeit, in die man
  vor selbstvernichtenden oder auch vor schlicht unverständlichen,
  "verrückten" Willen kommen kann (Beispiel: Selbstverstümmler in der
  Psychiatrie), war sicher Schweitzer nicht unbekannt - er selbst schildert
  den Jammer seiner psychiatrischen Patienten, etwa mit Tobsuchts-Anfällen,
  oder auch, wie manche Patienten sich, etwa durch mangelnde Hygiene, entgegen
  ärztlicher Anweisung in Gefahr oder gar zu Tode gebracht haben.     | 
 
| 
   ... oder vielleicht besser eine differenzierende
  Respektierung auch einzelner "Teil"-Willen?                                   | 
  
   Ich kann mir aber vorstellen,
  daß Schweitzer heute - vor dem Hintergrund des Konzepts der Gen- und Mem-Evolution
  - auch den einzelnen, "verrückten" Willen ein eigenes Leben
  zuschreiben würde und dann eine Aufgabe einer Ethik der Ehrfurcht vor dem
  Leben darin sehen könnte, zwischen den Willen zu vermitteln, die in unverständlichem
  Krieg liegen - auch im Innern eines einzigen Menschen - ähnlich, wie er
  sich um die geistige Vermittlung im Wettrüsten des Kalten Krieges bemüht
  hat.    Mit einer solchen
  Verallgemeinerung des Begriffs "Leben" hinein in die kleinsten
  Teilsysteme lebender Wesen - die Schweitzer wohl nicht fremd gewesen wäre -
  könnte die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben auch dann die Ethik der Einvernehmlichkeit
  mit einschließen, wenn es "irgendwelche" Willen sind, mit denen
  es Ethik zu tun hat.         | 
 
| 
   4.2. Konzept "Einvernehmlichkeit" schließt "Ehrfurcht
  vor dem Leben" in sich ein.    | 
 |
| 
   "Einvernehmlichkeit" könnte
  "Ehrfurcht vor dem Leben" mit einschließen ...          | 
  
   Wie schaut es in der
  umgekehrten Richtung aus? Hier ist die Verallgemeinerung vielleicht noch
  leichter als in der anderen Richtung - vorausgesetzt,   - als "Willen" werden nicht nur menschliche Willen unterstellt.   Die oben angedeuteten
  Differenzierungen (Uneinheitlichkeit von Willen von Subjekten, insbesondere
  menschlicher Subjekte; fraktale Verfeinerung infolge Rückkopplung) sind wohl
  nicht unbedingt Voraussetzung dafür, daß "Einvernehmlichkeit"
  "Ehrfurcht vor dem Leben" mit einschließt.     | 
 
| 
   ... wenn die vorausgesetzten Willen nicht nur
  menschliche Willen sein sollen ...  | 
  
   Wenn
  "Einvernehmlichkeit" konventionell juristisch nur auf menschliche
  Willen bezogen wird - wie es wohl zu Schweitzers Zeit gängig war, dann ist
  das Konzept "Einvernehmlichkeit" zu eng, um "Ehrfurcht vor
  dem Leben" mit zu fassen. Schweitzer ging es ja gerade darum, die >anthropozentrische,
  also nur auf den Menschen bezogene Sicht der bisherigen abendländischen
  Ethik aufzubrechen. Insofern ist er wohl mit einer der Vordenker moderner
  Umwelt-Ethik geworden. Das unter dem Konzept "Einvernehmlichkeit"
  wieder zurückschrauben zu wollen, wäre ganz indiskutabel.     | 
 
| 
   ... sondern so etwas wie allgemeine "Interessen"                          | 
  
   Wenn aber die Begriffe
  "Einvernehmlichkeit" und "Wille" weit gefaßt werden (im
  juristischen Bereich wird bei der Diskussion des Umweltrechts stattdessen der
  Begriff des "Interesses" verallgemeinert - mit ähnlicher
  Wirkung), dann müßte der allgemeine "Wille", der im Konzept
  "Einvernemlichkeit" unterstellt wird, den speziellen "Willen
  zum Leben" (mit allen etwaigen Qualitäten) als Spezialfall mit umfassen.
     Die Ethik der
  "Einvernehmlichkeit" würde dann die Ethik der "Ehrfurcht vor
  dem Leben" mit umfassen.    | 
 
| 
   5.
  Folgerung: Äquivalenz beider Ethiken   Der Leser ahnt, wie es
  weitergeht:    | 
 |
| 
   Zwei Ethiken, von denen jede die andere mit einschließt,
  sind äquivalent ...             | 
  
   -    Wenn - bei hinreichender Verallgemeinerung des Lebensbegriffs
  - die Ethik der "Ehrfurcht vor dem Leben" die Ethik der
  "Einvernehmlichkeit" in sich aufnehmen kann,    -    wenn gleichzeitig - bei hinreichender Verallgemeinerung
  des Willensbegriffs - die Ethik der "Einvernehmlichkeit" die
  Ethik der "Ehrfurcht vor dem Leben" in sich aufnehmen kann,   dann folgt daraus, daß beide
  Ethiken als äquivalent betrachtet werden können.     | 
 
| 
   ... wenn gewisse begriffliche Verallgemeinerungen
  akzeptiert werden -    | 
  
   Das bedeutet nicht, daß sie
  in jedem Sprachmilieu und für jede Zielgruppe äquivalent sein müßten. Die notwendigen
  Verallgemeinerungen müssen ja nicht unbedingt mitgemacht werden. Es könnte
  Leute geben, die sich gerade gegen diese Verallgemeinerungen wehren. Solche
  Leute müßten sich deshalb zwischen den Ethiken entscheiden - oder eine
  ganz andere Ethik vorschlagen.     | 
 
| 
   ... das bedeutet große Chancen.    | 
  
   Eine Äquivalenz beider
  Ethiken könnte aber, positiv betrachtet, die Chance eröffnen, Begriffsmuster
  aus beiden miteinander zu verknüpfen - zum Nutzen ethischen Denkens, und
  vielleicht letztlich auch Verhaltens.         | 
 
| 
      | 
  
      | 
 
| 
      | 
  
   Levi, S.: KL - Künstliches Leben
  aus dem Computer. München: Droemer-Knaur 1993   Schweitzer, A.: Kultur und Ethik.  München: Beck 1960 (Original
  1923)   Stone, C.: Umwelt vor Gericht -
  die Eigenrechte der Natur.  München: Trickster 1987
  (1974)   Tomášek, W.: Umwelt als Mitwelt -
  Öko-Ethik? in: Gestalt finden für die tägliche Umwelt: ´Ökodesign´ geht uns
  alle an.  München: Urbanes Wohnen 1992   Weizsäcker, C. F. v.: Aufbau der
  Physik.  München: Hanser 1985    | 
 
| 
      | 
  
      | 
 
| 
      | 
  
      | 
 
| 
      | 
  
      | 
 
| 
      | 
  
      | 
 
| 
   Begriffe, wie sie hier
  verwendet werden:  | 
 |
| 
      | 
  
      | 
 
| 
      | 
  
   abstrakt = nichtgegenständlich,
  verallgemeinert   Anthroposophie = von Rudolf Steiner begründetes
  Denk- und Lehrgebäude, das den Geist des Menschen mit dem Geist der Welt zu
  verbinden sucht   anthropozentrisch = den Menschen in den Mittelpunkt
  der Dinge stellend   äquivalent = im betreffenden Zusammenhang
  gleichwertig, gleichbedeutend   Ehrfurcht vor dem Leben = nach A. Schweitzer
  Grundprinzip des Sittlichen   Einvernehmlichkeit = Zusammengehen von zwei
  oder mehreren Willen. Grundlage von Verträgen    Ethik = Lehre vom Guten   evident = unmittelbar einleuchtend   Evolution = Entwicklung, insbesondere
  Entwicklung der Lebewesen auf der Erde in gegenseitiger Beeinflussung und
  unter Veränderung des inneren Aufbaus.   Existentialismus = philosophische Strömung,
  die das menschliche Dasein in den Mittelpunkt stellt   fraktal = in immer ähnlicher Weise
  bis ins Unendliche fein verästelt   Gen = Einheit der biologischen
  Erbsubstanz, ein Abschnitt auf dem Kettenmolekül DNS.   implizit = einbegriffen,
  eingeschlossen   Information = Ungewißheit von
  Ereignissen, gleichzeitig (bis auf das Vorzeichen) aber auch das Wissen, das
  die Ungewißheit aufhebt. Einheit der Information: eine Ja/Nein-Entscheidung
  (Bit)   Marxismus = weitgespanntes, vor allem
  auf Karl Marx zurückgehendes Lehrgebäude, an dessen Anfang die Kritik an
  den Ungerechtigkeiten des Kapitalismus stand   Mem = gedachte Grundeinheit
  kultureller und technischer Information, entsprechend dem >Gen   Ökologie = Wissenschaft von den Wechselwirkungen,
  insbesondere dem Stoff- und Energieaustausch der Lebewesen mit ihrer Umwelt   Psychoanalyse = von Sigmund Freud begründetes
  Lehrsystem zur Deutung psychischer Vorgänge. Erhebt einen therapeutischen
  Anspruch.   Subjekt = (hier) Gegenstand, der
  Information aufnehmen kann und gerichtetes Verhalten zeigt. Mit hinreichend
  allgemeinen Fassungen der Begriffe "Information" und "gerichtetes
  Verhalten" kann jeder Gegenstand als Subjekt betrachtet werden   Synergetik = Lehre vom Aufbau komplexer
  Ordnung aus dem zunächst chaotischen Zusammenwirken vieler Einzelelemente   System = Gesamtheit von Elementen,
  die untereinander, bei offenen Systemen auch mit ihrer >Umwelt in
  Beziehung stehen.    Umwelt = Im allgemeinen Sinn =
  Gesamtheit aller >Systeme, die mit einem bestimmten System in Beziehung
  stehen. Im engeren Sinn = die Gesamtheit der natürlichen Systeme, die mit
  der menschlichen Zivilisation in Beziehung stehen, also Gestein und Boden,
  Gewässer, Lufthülle, Pflanzen- und Tierwelt.    Wille = (hier) Grundbegriff. Anwendung
  muß nicht auf menschlichen Willen beschränkt werden.    | 
 
| 
      |