Wolfgang Tomášek

 

 

 

"Blut und Boden" in grünen Berufen bearbeiten:

 

Gespräch mit den Toten

 

 

Bürgertext

 

5

 

Stand 21.8.2001 (1994)

 

 

 

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1.  Braune Altlasten in grünen Berufen

 

 

 

2.  Ungewohnte Per­spektive: Ökosystem der Ideen ...

 

 

 

3.  ... mit Folgerungen auf der ethischen Ebene

 

 

 

3.1. Was ist an "Blut und Boden" wahr?

 

3.2. Was ist an "Blut und Boden" gut?

 

3.3. Wo sitzen die Irrtümer und Widersprüche?

 

       Durch welche Lecks dringt Unmenschlichkeit ein?

 

 

 

4.  Gespräch mit den Toten - ein mühseliges Unter­fan­gen

 

 

 

Quellen

 

 

 

 

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1.  Braune Altlasten in grünen Berufen

 

Diskussion um braune Gründerväter eines grünen Berufsstandes ...

 

Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist eine Diskus­sion in einer Fachzeitschrift um die Rolle von Pionie­ren der Landschaftsplanung in der Nazizeit (vgl. Schmidt 1994). Diese Diskussion findet statt in einer Zeit, da

 

o   das geltende Bun­des­vertriebe­nenge­setz definiert:

 

     "Deut­scher Volks­zugehöriger im Sinne dieses Ge­setzes ist, wer sich in seiner Heimat zum deut­schen Volks­tum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Ab­stam­mung, Sprache, Erzie­hung, Kultur bestätigt wird ...",

 

     wobei gleichzeitig Artikel 3(3) des Grund­ge­setzes lautet:

 

     "Nie­mand darf we­gen seines Geschlechtes, seiner Ab­stammung, seiner Rasse, seiner Spra­che, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiö­sen oder poli­tischen An­schauun­gen benachteiligt oder bevor­zugt wer­den."

 

o   der  Aussied­ler­beauftragte  der  Bundesregierung deutsch­­stämmige russische Staats­angehörige mit "Lie­be Landsleute" titu­liert,

 

o   eine Ausstellung des "Deutschen histori­schen Mu­seums", Berlin, über "Deut­sche im Osten" schon in der Gra­phik ihres Plakates für eine Samm­lungs­bewe­gung der "zersplitterten" deutschen Volksgruppen in den Ländern des ehe­maligen Ostblocks wirbt,

 

o   privatisierte Staatsmonopole mit nahezu fa­schistischer Äs­thetik für sich Reklame machen,

 

o   die Süddeutsche Zeitung im Feuilleton die "Schönheit der Grausamkeit" feiert ...

 

 

... könnte auf eine abstrakte Ebene

geho­ben werden.

Eine kritische Ausein­andersetzung mit heute noch virulen­tem >braunen Gedankengut ist also sicher aktu­ell. Auf sol­che Entwicklun­gen hin­zuweisen und sich em­pört davon zu distanzie­ren ist gut. Besser ist viel­leicht die Frage nach den eige­nen Interessen der Vertreter von Wis­sen­schaft, Planung und Politik - eigentlich schon Stan­dard­be­stand­teil einer >Ideologie-Dis­kussion. Ich schla­ge vor, diese Reflexions­schleife in Beziehung zu setzen erstens zur >Ökologie - einer Diszi­plin, zu der "grüne" Berufs­gruppen eine beson­ders enge Bezie­hung haben müßten, - zweitens zu einer allgemeinen >Ethik. Das Ergebnis der Überle­gungen könnte auf die Diskus­sion geisti­ger Altlasten aus der Nazi­zeit angewandt werden.

 

 

 

2.  Ungewohnte Per­spektive: Ökosystem der Ideen ...

 

Thermodynamik

und Ökologie gelten auch in der geistigen Welt.

 

Wenn die Umsetzung jedes Bits Information einen kleinen, aber nie verschwindenden Betrag an Energie erfordert, egal, ob in Gehirn, Genom oder Computer­programm, dann unter­liegen auch Gedanken, Ideen, geistige Gebilde als energie-umsetzen­de >Systeme den >Hauptsät­zen der >Thermodynamik - >Energie-Erhaltungs­satz und >En­tropie­satz. Als dynamische, in ei­nem all­gemeinen Sinn belebte Gebilde ent­wickeln sie sich nach den Anwendun­gen dieser Hauptsätze in Biologie und Ökologie, den Darwin­schen >Evolu­tionsprinzi­pien, nicht anders als die Lebe­wesen im engeren Sinn: Auffäche­rung von Mög­lich­keiten durch >Muta­tion; Reduzie­rung durch >Selektion, insge­samt >Diffusion im >Möglichkeitenraum. Bei hinrei­chender >Ko­m­plexität müßte man ähn­liche Über­lebens- und Aus­brei­­tungs­strate­gien bei geistigen Gebilden erwar­ten wie bei Lebe­wesen (vgl. hierzu etwa Bateson 1985, Levy 1993). Man kann dann sagen, daß Menschen mit geisti­gen Gebilden "in >Symbiose" leben.

 

Jeder Gedanke muß in seinem Konkurrenzfeld energie-ökonomische Vorteile bieten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aus einer solchen Sicht entsteht die Anre­gung zu "geisti­ger >Öko­sy­stem­for­schung": Welche denk­ökonomi­schen, letztlich energie-ökono­mischen Vorteile liegen in ">Blut und Boden" und Ver­wandtem, so daß da­mals die Mehr­zahl aller Deutschen durch ihre Wahlent­schei­dung den >Natio­nalso­zialismus an die Macht brachte und heute wieder ein junger Trend bemerkenswert stark nach rechts drückt?

 

Die Erforschung der Denk-Ökonomie braunen Gedan­ken­gutes würde nicht ohne weiteres Prognosen über das Denken eines einzelnen Menschen möglich ma­chen. Sie würde aber eventuell global plausi­bel machen können, wie etwa die natio­nalsozialistische Umwälzung in Deutsch­land zustande­kam, wie es kommt, daß sich ähnlich >totalitäre und führer­orientierte Systeme immer wieder rings um den Globus erfolg­reich etablieren - und viel­leicht, warum so viele Leu­te auch nach der Katastrophe an ihrer "Blut- und Boden"-Gesin­nung festgehalten haben.

 

 

3.   ... mit Folgerungen auf der ethischen Ebene

 

Denk-Ökonomie mit Ethik in Auseinanderset­zung bringen?

Wenn man - in Anleh­nung an Albert Schweitzer - etwa eine Ethik der Rücksicht auf lebende Gebilde vertritt oder  - >äquivalent - eine Ethik der >Ein­ver­­nehmlichkeit, dann wä­ren mit obiger Vorstel­lung vom Ökosystem der Ideen bei jeder Auseinandersetzung um eine Ideologie ethische Kriterien anzuwenden, und zwar zunächst un­abhängig vom Inhalt, rein auf­grund der An­nahme der Lebendigkeit der geisti­gen Gebilde.

 

Konzept:

Gespräch mit den To­ten ...

 

Eine grüne Berufsgrup­pe könnte sich in ein gedachtes Gespräch mit den Toten begeben und - entla­stet von den Begren­zungen der Le­benszeit einzelner Per­sonen - die geistige Auseinandersetzung mit ihnen suchen, sie sogar zur Auseinander­setzung unterein­ander anre­gen. Ein solches Gespräch mit den Toten müßte al­ler­dings im Einklang mit der eigenen Ethik ge­führt oder vermittelt werden, also etwa - vor dem Hintergrund des Grundge­setzes - mit Respekt vor der Menschenwürde dieser Persönlich­keiten.

 

Fiktive Ge­spräche mit Toten könnten in nicht allzufer­ner Zukunft sehr erleichtert werden durch hochkom­plexe Compu­ter-Program­me, gespeist mit Informationen über histo­ri­sche Persönlich­keiten (vgl. etwa Levy 1993, Mora­vec 1992). Ähnlich wie heute ein Schau­spie­ler sein Kön­nen einer Gestalt wie "Caesar", "Faust" oder "Gali­lei", leihen kann, so könnte es dann mög­lich sein, solche Pro­gramme mit den noch vorhan­de­nen In­forma­tionen etwa über braune Pioniere einer grünen Berufs­gruppe zu speisen, und mit diesen in Form komplexer Software-Modelle "wie­derbe­lebten" Persönlich­keiten zu dis­kutieren.

 

... geführt mit Ehrfurcht vor dem Leben ...

 

Wenn man den Respekt gegen­über leben­den Gebil­den zur ethi­schen Richt­schnur ma­cht, müßte man das Ge­spräch sogar mit Re­spekt vor dem Leben der einzel­nen Ideen führen. Das gilt auch, wenn sie zu­nächst un­ver­träglich mit unseren oder ande­ren ethischen Haltun­gen, ja sogar mit sich selbst er­scheinen. In einer allge­meinen Natur­schutzethik verdie­nen ja auch Kroko­dile, Gift­schlan­gen, Blutegel und Läuse in ihrer Art Respekt, auch wenn sie zwei­fellos ab­stoßende Seiten haben und sich zumin­dest gegenüber ihren Beute- und Wirt­stieren nicht an eine von diesen akzeptable Ethik halten.

 

... Übung auch für aktuelle Diskussionen?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das heißt im Fall der Diskussion um die braunen Pionie­re: Nicht nur mit ihren anerkann­ten fachlichen bzw. künst­lerischen Leistun­gen, sondern auch mit ihrem "brau­nen Gedan­kengut", also ihren völkisch-impe­riali­sti­schen Phant­a­sien und sogar ihrer Beschimpfung der Trä­ger anderer Spra­che und Kultur könnte die Ausein­anderset­zung geführt werden! In ei­nem solchen fiktiven Gespräch könnten sie da abgeholt wer­den, wo sie damals oder auch später im Alter standen. Darüber hinaus könnte das gedach­te Gespräch mit den Toten, die Blut- und Boden-Denken gezeigt haben, als Übung be­trachtet wer­den für die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem neu-braunen Trend unter jungen Leuten.

 

Erste Leitfrage in einem solchen Ge­spräch könnte sein:

 

 

3.1.     Was ist an "Blut und Bo­den" wahr?

 

"Etwas Wahres wird dran sein":

"Blut und Boden" rückt ökologi­sche Reali­täten ins Bewußtsein

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich vermute, daß mit dieser Frage eini­ge Wahrheiten aufge­deckt werden können, die heute in weiten Berei­chen rot/­grüner Gesinnung trotz ständi­ger Berufung auf Öko­logie "ver­leugnet und verdrängt" werden, nämlich daß zum Bei­spiel im Bezugsfeld "Boden"

 

o   jedes lebende We­sen ein Stück Sonnen­licht-Auffang­fläche als Quelle für seine Nahrung benö­tigt, auch wenn die über andere Lebewesen ver­mittelt ist,

 

o   die Sonnenlicht-Auffangfläche der Erde begrenzt ist,

 

o   alle lebenden Syste­me zu Wachstum oder Vermeh­rung fähig und bereit sind,

 

o   sie also zwangsläufig mitein­ander in Konkurrenz kom­men müssen, weshalb Selektion unvermeid­lich ist,

 

o   zwischen leben­den Systeme einer Min­destkom­plexität wie­derholte >physi­sche >Konflikte mit Existenz­risiko wahr­scheinlich sind,

 

o   immer wieder ag­gressive und ex­pan­sive Systeme er­folg­reich ihre Nachbarn unterjochen, ausbeu­ten, verdrän­gen und ausrotten können,

 

o   eine Entfernung lebender Systeme vom Existenz­rand zufällig und glück­haft möglich, aber nicht auf lange Dauer stabil ist,

 

und daß die hierzu denkbaren Alternativen, nämlich ener­gie-, wachstums- oder vermehrungsfreies Leben, unbe­grenzt wachsende Erde oder unbegrenzte Verfeine­rung des Lebens, kon­kurrenzfreies Wachstum, allseits friedliche Welt und ähnliches - kaum oder zumin­dest sehr schwie­rig in inselhaften Bereichen zu verwirklichen sind, auch wenn sie so wünschbar sein sollten wie Schlaraffenland und Perpetuum mobile.

 

Im Bezugsfeld "Blut" könnte die oft verdrängte Wahrheit etwa darin zu finden sein,

 

o   daß unsere äußeren und inneren Eigenschaften, ja sogar unser Lebensentwurf erstaunlich weitgehend durch unsere Erbanlagen bestimmt sind - wie es die vergleichende Zwillingsforschung aufgedeckt hat,

 

o   daß Menschen und schon Tiere sich seit Urzeiten >genetisch manipulieren, sich also selbst bezüchten - durch die sexuelle Selektion,

 

o   daß dies schon in wenigen Generationen meßbar die Eigenschaften einer >Population verändern kann,

 

o   daß in länger bestehenden Populationen genetische und kulturelle Selektion miteinander wechselwirken, und zwar schon bei Tieren,

 

o   daß solche Populationen deshalb genetisch-kulturelle Besonderheiten entwickeln, die ihnen in der Ressour­cenkonkur­renz Vorteile verschaffen.

 

 

"Blut und Boden" histo­rischer wie moderner Prägung hät­te dann, wie ange­deutet, eine durchaus plausible öko­logisch-evolutionäre Komponente. Gibt es dazu wissen­schaftliche Alternativen? Immerhin - in den USA werden solche Alter­nativen postuliert, etwa mit der Berufung auf das Alte Testament. Es wird z.T. sogar das Verbot der Evolutionstheorie an Schulen und Hoch­schu­len gefor­dert.

 

Wenn aber diese Alternativen nicht attraktiv sind, dann wäre die Frage: Wie geht man mit solchen öko­logi­sch-evolutionären Model­len um? Deutet man sie zu ethisch-poli­ti­schen Im­pe­rativen um, in einem Schluß vom "Ist" auf das "Soll­te"? Oder könnten ethisch depri­mierende wissenschaftliche Modelle zu einer Ver­tiefung von Ethik füh­ren, zu einer Teil-Eman­zipation ethischen Wol­lens vom Erkennen (vgl. etwa Schweitzer 1923)? Könnte politi­sche Ethik sich damit der Ethik eines Arztes annä­hern, der weiß, daß er in jedem Fall dem Tod un­ter­lie­gen wird und den­noch täg­lich aufs Neue ge­gen ihn antritt?

 

Zweite Leitfrage für das Gespräch mit den Toten könnte sein:

 

 

 

3.2.     Was ist an "Blut und Bo­den" gut?

 

"Es hat alles sein Gu­tes":

 

Falls es gelingt, der Ideologie von "Blut und Boden" eine plausi­ble >kognitive Kompo­nente zuzugestehen, dann könnte es auch gelin­gen, ihr eine akzeptable >norma­tive bzw. ethische Kompo­nente zuzugeste­hen.

 

"Blut und Boden" ver­tritt echte Werte.

Sie könnte in der Rich­tung "all­gemei­ne Brut­pflege" liegen, auch wenn diese sich nicht auf alle Kinder der Welt, sondern nur auf die eigenen bezieht. "Ge­sunde Kin­der in gesunder Landschaft" - das ist nicht gar so weit ent­fernt von den Motiven heutiger ernährungs- und umwelt­bewußter Eltern. Es könnte auch sein, daß das - unter anderem - von Vertre­tern von "Blut und Bo­den" gefor­derte "ganz­heitliche Denken", die Bemühung, "das Ganze zu sehen" ein Punkt ist, an dem sie beim Wort genommen werden könnten. Das Bemühen um das Ganze könnte auch als Chance be­trachtet wer­den, Ver­drängun­gen aufzudecken und Widersprüche zu bearbeiten. Ähn­lich könnte eine Reihe von "ganzheitli­chen" Wertbe­griffen aus dem Bereich von "Blut und Boden" wie "Gesund­heit", "Fa­milie", "Volk", "Heimat", auf unter verschieden­artigen ethischen >Prä­missen akzep­table nor­mative Kom­ponenten analysiert werden. Sie müßten nicht ohne wei­te­res pau­schal als "braun", "dumpf", "dif­fus", "-tümelei", u.ä. verächtlich gemacht werden.

 

Erst wenn beides ge­lungen ist - "Blut und Boden" so­wohl eine plausible kognitive Kom­ponente als auch eine akzeptable ethische Komponente zuzugeste­hen, könnte man im Gespräch mit den Toten zur entscheiden­den dritten Leitfrage kom­men:

 

 

 

3.3.  Wo sitzen die Irrtümer und Widersprüche?

Durch welche Lecks dringt Unmenschlich­keit ein?

 

Einbruchstellen

für Unmensch­lichkeit:

 

In der Auseinander­set­zung mit den Toten könnten - vor dem historischen Hintergrund von Terror, Krieg und Völker­mord, schließlich des Zusam­menbruchs des Nazi-Regi­mes durch Ein­wir­kung aus dem Ausland - Ant­worten auch auf solche Fragen gesucht werden. Ich selbst kann keine ab­schlie­ßenden Antwor­ten ge­ben, vermute aber we­sentli­che Problem­punkte in grund­sätzli­chen Denk­figu­ren hinter "Blut und Bo­den".

 

... Schluß vom Sein aufs Sollen, ...

Ein Pro­blempunkt dürfte im schon erwähnten Schluß vom "Ist" auf das "Soll­te" liegen, also dem sogenannten ">na­tu­ralisti­schen Fehl­schluß". Wie aktuell die Diskussion dieser Denk­figur auch heute ist, zeigt sich darin, daß sie nicht nur in "Blut und Boden", sondern auch in einer Viel­zahl ange­sehener und weitver­breiteter Denkge­bäude steckt, etwa in >Katho­lizismus, >Marxismus, >Psycho­ana­ly­se, >Anthro­poso­phie, >Esote­rik. Ich glaube, daß der naturali­sti­sche Fehlschluß auch unter Gegnern von "Blut und Boden" verbreitet ist.

 

... Gesinnungsethik, ...

 

Einen zweiten Problem­punkt vermute ich in dem, was als soge­nanntes "Schuldprinzip" nach wie vor Bestand­teil geltenden Straf­rechts ist, nämlich die Aus­richtung von Ethik an subjektiver Gesin­nung statt an den ob­jek­tiven Auswirkungen eines Verhaltens, wie letzteres etwa einem >Wieder­gutmachungs­recht entspre­chen würde. Ich glaube, daß Gesin­nungsethik bei der Pro­duktion von gutem Ge­wissen damals wie heu­te eine große Rolle spielt und mitverant­wortlich ist etwa für die Selbst­freisprechung der Richter nach dem Zu­sammenbruch des Nazire­gimes.

 

... Vorrang der Sozial­ethik ...

Einen dritten Problem­punkt der "Blut- und Boden"-Ideo­lo­gie ver­mute ich im Verkleben von >Individual- und >Sozi­al­ethik (vgl. hierzu Schweitzer 1923). Das führt unter anderem dazu, daß ein Verhalten schon dann als ethisch weitgehend ge­rechtfer­tigt gilt, wenn es un­egoi­stisch ist. Auch diese Denkfigur ist heu­te noch weit verbreitet. Vielleicht könnte die Dis­kussion auf der ab­strak­ten Ebene allge­meiner Ethik bzw. >Me­ta-Ethik den Vertre­tern von "Blut und Boden" neue Türen des Den­kens eröffnen. Die Ide­ologie von "Blut und Boden", verkör­pert in ihren toten und leben­den Vertretern, könnte sich dann selbst wei­ter­ent­wickeln und zu etwas wan­deln, das nur mehr entfernt mit dem zu tun hat, was heute alt- oder neona­zistisch genannt wird.

 

... Gefahrenpunkte auch in anderen Denktraditio­nen?

 

Umgekehrt könnte sich herausstellen, daß auch ande­re Denk­traditionen die gleichen Keime der Verderbnis in sich tra­gen wie "Blut und Boden", die zu ethischen Katastro­phen wie Krieg und Völker­mord beitragen können.

 

Keine Erfolgsgarantie für Diskussion

Vielleicht aber müßte man sogar die Möglich­keit ins Auge fassen, daß es reflektierte Ver­treter von "Blut und Bo­den" gibt, die weder angesichts der histori­schen Fakten über das vielmillionenfache Elend, das das "tau­sendjäh­rige Reich" über die Welt gebracht hat, noch in der Konfron­tation mit logischen Wider­sprüchen bereit sind, von ihren Positio­nen abzurücken. Selbst ein solches Er­gebnis könnte als wei­terführende Erkenntnis bei der Erforschung des Öko­systems der Ideen gedeutet werden.

 

 

 

4.  Gespräch mit den Toten -

     ein mühse­liges Unter­fan­gen

 

Auch lange Wege kön­nen gegangen werden, wenn man viel Zeit hat.

 

Das hier vorgeschlage­ne Gespräch mit den Toten ist - zugegeben - ein mühseliges Unterfangen. Da es aber nicht von einem einzelnen, son­dern von einer ganzen Berufsgruppe, letztlich von der ganzen Bevöl­kerung getragen wer­den könnte, und das über Jahr­zehnte hin­weg, dürfte sich die Bela­stung des einzel­nen in Grenzen halten.

 

Die Alternati­ve, "die Toten ruhen lassen", ja geradezu froh darüber zu sein, daß man mit den braunen Grün­der­vätern nicht mehr zu diskutie­ren braucht, scheint mir jedenfalls etwas zu kurz gegriffen. Ange­sichts der Kürze eines Men­schen­lebens ist es allerdings ver­ständ­lich, wenn sich nicht jeder mit jeder Ideologie und jedem Zeitgenos­sen aus­ein­ander­set­zen möchte. Dieser Gesichts­punkt gilt aller­dings nicht un­be­dingt für die Ausein­ander­setzung einer Be­rufsgruppe oder einer ganzen Bevölke­rung mit einer Ideologie wie "Blut und Boden". Wenn das Wort "Was vergessen wird, ge­schieht" etwas Wahres enthält, könnte sich das Unter­nehmen insgesamt doch lohnen.

 

Was wäre denn die Alternative?

 

Umgekehrt: Ohne eine grund­sätzliche Bereit­schaft zum Gespräch mit den Toten fürchte ich die Gefahr der Selbstgerechtigkeit. Wohin diese wiederum führen kann, zeigt sich symptomhaft in den USA im Gefolge der Be­wegung für ">political correctness", aber auch in der derzeitigen, von selbstge­rechten Eiferern geschürten Hysterie um den sogenannten "sexuel­len Miß­brauch". Der strahlend weiße Zen­tralbe­reich kollektiver ethischer Entrü­stung gebiert He­xen­wahn.

 

Ich rege an, die Frage der politischen Implika­tionen brauner Altlasten grüner Berufe in den Rahmen der Diskussion von "Blut und Boden" überhaupt zu stellen und zum Anlaß für ein langes Gespräch mit den Toten zu nehmen.

 

 

 

 

 

 

Quellen

 

 

Bateson, G.: Ökologie des Geistes.

Suhr­kamp 1985

 

Info-Dienst Deutsche Aussiedler

Nr. 39, 1993

 

Levy, S.: KL - Künst­liches Leben aus dem Com­puter.

M­ü­n­c­h­en: Dr­o­e­mer-Knaur 1993

 

Moravec, H.: Mind Chil­dren.

Hamburg: Hoffmann & Cam­pe 1992

 

"Prinzip Grausamkeit",

SZ 13.5.1994, S. 64

 

Schmidt, I.: Ver­leugnet und verdrängt.

Garten und Land­schaft 11/1994

 

Schweitzer, A.: Kul­tur und Ethik.

Mün­chen: C.H. Beck 1923/1960

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Begriffe - wie sie hier verwendet werden

 

 

 

abstrakt = nichtgegenständlich, verallge­meinert

 

äquivalent = im betreffenden Zusammen­hang gleichwertig, gleichbedeutend

 

Anthroposophie = von Rudolf Steiner be­gründetes, >esoterisches Denk- und Lehr­gebäude, das den Geist des Men­schen mit dem Geist der Welt zu verbin­den sucht

 

Blut und Boden = symbolische Formel für faschistische bzw. nazistische Ideologie mit der Betonung von Gesichtspunkten von Rasse und Abstammung ("Blut") und Lebensraum ("Boden")

 

braun = (hier) Kurzformel für faschistisch bzw. nazistisch

 

Diffusion = Ausbreitung von Elementen (zum Bei­spiel von Stoffteilchen) in realen oder >ab­strakten Räumen, an­getrieben durch die zufällige Wärmebewegung der Teilchen. Nach >En­tropiesatz nie völlig zu ver­meiden.

 

Einvernehmlichkeit = Zusammengehen von zwei oder mehreren Willen. Grundlage von Verträgen

 

Energie-Erhaltungssatz = Satz von der Erhaltung der Energie und damit der Un­möglichkeit eines Perpetuum mo­bile 1. Art (einer Maschine, die aus nichts Energie erzeugen kann). Gleichbedeutend mit der Annahme der Gleichförmigkeit der Zeit. Auch "Erster Hauptsatz der Thermodyna­mik" genannt.

 

Entropiesatz = "Zwei­ter Hauptsatz der Ther­mo­dyna­mik", ein all­gemei­nes Natur­ge­setz, das die Unum­kehr­barkeit der Zeit - unter gängi­gen Bedin­gungen - be­hauptet, gleichbedeutend

 

- den Übergang von >Systemen in der Zeit zu wahrscheinli­cheren Zustän­den, das heißt bei abgeschlossenen Sy­ste­men zu größerer Unordnung, bei offe­nen Systemen mit Energie-Um­satz und Stoffströ­men zu größerer Ord­nung,

 

- die Unmög­lichkeit, Ord­nung ohne En­er­gie­ein­satz zu schaf­fen, insbesonde­re

 

- die Un­möglichkeit, ein "Per­petuum mobi­le 2. Art" zu bau­en - eine Ma­schi­­ne, die ohne Rei­bung läuft.

 

Der En­tropie­satz wird in ver­schie­denen Sprich­wörtern aus­ge­drückt, zum Beispiel: "Der Krug geht so lan­ge zum Brun­nen, bis er bricht"; "Die Bäume wachsen nicht in den Himmel".

 

Esoterik = Geheimleh­re; heute oft Sam­mel­begriff für Lehrge­bäu­de, die einen unmit­tel­baren Zugang zu Wissen über die Welt - ohne Beobachtung oder Experi­ment - verspre­chen

 

Ethik = Lehre vom Guten

 

Evolution = Entwick­lung, insbesondere Entwicklung der leben­den >Systeme auf der Erde in gegen­seitiger Beeinflussung und unter Verände­rung der inneren Struk­tur

 

Faschismus - im all­gemeineren Sinn = am Führerprinzip orien­tierte, nationalisti­sche, antiliberale und antikommunistische Herrschafts­form.

 

genetisch = die biologische Vererbung betreffend

 

Hauptsätze der Thermodynamik = >Ener­gie-Erhaltungssatz und >En­tropiesatz.

 

Ideologie = interes­sengebundene Welt­anschauung, meist von politi­schen oder ge­sell­schaftlichen Gruppen.

 

Individualethik = >Ethik des Individuums

 

Katholizismus = Gesamtheit der durch den Glauben bedingten Anschauungen und Lebensäußerungen der Katholischen Kir­che und ihrer Gläubigen

 

kognitiv = das Erkennen betreffend (Ge­gensatz: >normativ)

 

Komplexität = Vielfalt unterschiedlicher Beziehungen in­ einem >System

 

Konflikt = Zusammenprall gegensätzlicher Interessen

 

Marxismus = weitge­spanntes, vor allem auf Karl Marx zurück­ge­hendes politisches Lehrge­bäude, an dessen Anfang die Kritik an den Unge­rechtigkeiten des Ka­pitalismus stand

 

Meta-Ethik = Sprechen über >Ethik; wis­senschaftliches Erforschen von Ethik

 

Möglichkeitenraum = >ab­strakter Raum, der aus den Koordinaten aufge­spannt wird, auf denen die Eigen­schaf­ten oder Bezie­hungen eines >Sy­stems abgebildet wer­den. Dient zur Veranschaulichung bei der Beschrei­bung von Systemen und ihrem Verhalten.

 

Mutation = Erschließen von Möglichkeiten durch kleinste Verän­derungen, insbeson­dere in der >Evo­lution

 

Nationalsozialismus = Die 1933-1945 in Deutschland staatstragende >Ideologie, gekenn­zeichnet unter anderem durch ge­walttätigen To­talitarismus (Ab­lehnung der Gewaltentei­lung; "Gleichschaltung" aller Lebensberei­che unter dem Staat; Einheit von Partei und Staat), Führerprinzip, Anti­marxismus,  Rassis­mus,  Antisemi­tis­mus, Impe­rialismus.

 

naturalistischer Fehlschluß = Schluß vom Sein aufs Sollen; Versuch, ethische Werte aus Erkenntnissen abzuleiten.

 

normativ = Werte und Normen betreffend. Gegensatz: >kognitiv.

 

Ökologie = Wissen­schaft von den Wech­selwir­kungen, insbe­sondere dem Stoff- und Energieaustausch le­bender >Systeme mit ihrer Umwelt - auch Wissenschaft von den >Ökosystemen

 

Ökosystem = >System aus Lebewesen,  unbelebten sowie techni­schen Bestand­teilen, die un­tereinander und mit ihrer Umwelt in Wech­selwir­kung stehen, insbe­sondere Energie oder Stoffe austau­schen.

 

physisch = körperlich, stofflich

 

political correctness = Bemühung, unter­privilegierten Gruppen der Gesellschaft schon in der Spra­che mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Besonders in den USA verbreitet.

 

Population = Gesamt­heit aller Individuen einer Art in einem bestimmten Raum bzw. >Ökosystem

 

Prämisse = logische Voraussetzung

 

Psychoanalyse = von Sigmund Freud be­gründetes Lehrsystem zur Deutung psy­chi­scher Vor­gänge. Erhebt einen therapeutischen Anspruch

 

Selektion = Auslese, Vernich­tung von Möglichkei­ten, insbesondere in der >Evo­lution

 

Sozialethik = >Ethik von Gruppen und ihren Vertretern

 

Symbiose = Zusammen­wirken zwischen zwei oder mehreren lebenden Systemen (zum Beispiel Pflan­zen, Tieren, Menschen) zu gegenseitigem Vor­teil

 

System = Gesamtheit von Elementen, die untereinander, bei offenen Systemen auch mit ihrer Umwelt in Beziehung stehen.

 

Thermodynamik = Wärme­lehre, heute auch ver­all­gemei­nert auf alle Anwen­dungen des >En­tro­piesatzes.

 

totalitär = alle Lebensbe­reiche steuern wollend (Staaten, Ideologien)

 

Wiedergutmachungsrecht = Alternative zum Strafrecht; An die Stelle der Strafe tritt eine Wiedergutmachungsleistung des Tä­ters an das Opfer.